Noch vor knapp einem Jahr wuchsen die Prognosen in den Himmel: Zwischen sieben und 18 Milliarden Dollar pro Jahr könne die US-Firma Biogen mit ihrem Alzheimer-Medikament Aduhelm einnehmen, es werde - am Umsatz gemessen - die größte Markteinführung eines Medikaments aller Zeiten. Den fairen Wert der Biogen-Aktie schätzten Analysten zwischen 435 und 470 Dollar.

So weit daneben lagen die Investmentbanker selten. Lächerliche drei Millionen Dollar hat Aduhelm im letzten Jahr eingebracht, Biogens Kurs hat sich seit der US-Zulassung im Juni 2021 ungefähr halbiert und steht jetzt knapp über 200 Dollar. Europa und Japan lehnten die Therapie rundheraus ab. Das Unternehmen hat seinen Forschungschef verloren und ist dabei, bis zu 1.000 der knapp 10.000 Angestellten zu entlassen. Kurz: Für Biogen steht es Spitz auf Knopf. Wenn sich nichts Wesentliches an den Ertragsperspektiven ändert, muss das Unternehmen sich grundsätzlich neu aufstellen, womöglich sogar zerschlagen oder verkauft werden.

Deadline am 11. April

Grund des Niedergangs ist die fehlende Kostenübernahme durch Medicare, der staatlichen US-Krankenversicherung für ältere Bürger. Die meisten Amerikaner, für die eine Behandlung mit Aduhelm infrage kämen, sind dort Mitglied. Im Januar veröffentlichte ein Medicare-Gremium einen Entwurf, wonach die Versicherung die Kosten für Aduhelm nur im Rahmen von placebo- kontrollierten Studien übernehmen wird. Das engt den Patientenkreis stark ein. Die ungewöhnliche Maßnahme wird mit den - durchaus begründeten - Zweifeln an der Wirksamkeit von Aduhelm gerechtfertigt.

Bis 11. April soll die endgültige Entscheidung darüber fallen, die auch für andere Medikamente der gleichen Wirkstoffklasse Gültigkeit haben wird. Insofern steht nicht nur Biogens Zukunft auf der Kippe, auch die Gewinnaussichten von Konkurrenten wie Roche und Lilly hängen an der Krankenkassenbeurteilung. Zumal sich private US-Krankenversicherer der Verweigerungshaltung von Medicare anschlossen - kein Wunder, können sie doch auf diese Weise enorme Kosten vermeiden.

Die Situation bietet Chancen für risikobereite Anleger. Da wäre zunächst das Potenzial für Biogen selbst: Mit dem ersten seit vielen Jahren zugelassenen Alzheimer-Medikament, so kontrovers dessen Wirksamkeit auch diskutiert wird, kann das Unternehmen auf die Unterstützung von einflussreichen Patientenorganisationen zählen. Womöglich beugt sich Medicare deren Druck und lässt bei der strengen Kostenübernahmeregel ein Hintertürchen offen. Etwa die zügige Erweiterung des Patientenkreises, falls in den kommenden Monaten bestätigende Daten aus Studien bekannt werden. "Wenn es eindeutigere Signale oder Trends darin gibt, wird das Center for Medicare & Medicaid Services sicher für eine Revision seiner Einschätzung offen sein", meint Michael Li, Portfoliomanager des American Century Advanced Medical Impact Fonds (ISIN: IE 00B MH6 QG2 0).

Bleibt es bei den Einschränkungen, muss Biogen handeln. Das Unternehmen verfügt zwar über eine gut gefüllte Produktpipeline. Doch die Daten zu den Medikamentenkandidaten fielen zuletzt gemischt aus. Neue Umsatzquellen werden dringend gebraucht, da die Einnahmen mit wichtigen Medikamenten gegen Spinale Muskelatrophie und Multiple Sklerose sinken. Biogen könnte mit einem Zukauf den Befreiungsschlag versuchen. 4,7 Milliarden Dollar haben die Amerikaner auf der hohen Kante, weitere 2,3 Milliarden Dollar sollen durch den Verkauf des Joint-Venture-Anteils an Samsung Biologics dazukommen.

Eine weitere Möglichkeit mit der Chance auf Kurssteigerungen wäre ein Austausch des Vorstands und die Abkehr von der Neurologie-zentrierten Strategie, die vor allem von CEO Michel Vounatsos vehement verteidigt wird. "Das Management hatte bisher überraschend starken Rückhalt bei den Aktionären. Deren Geduldsfaden könnte jedoch langsam reißen - oder ein aktivistischer Investor versuchen, Änderungen herbeizuführen", sagt Christian Lach, Manager des Bellevue Biotech Fonds (ISIN: LU 041 539 224 9).

Nachfolger mit Startvorteil

Das letzte potenzielle Ass im Ärmel von Biogen ist ein Aduhelm-ähnlicher Produktkandidat, den das Unternehmen mit der japanischen Eisai entwickelt: Lecanemab. Eisai will im April oder Mai einen Zulassungsantrag dafür in den USA stellen. Damit würden die Kooperationspartner die Wettbewerber Lilly und Roche überholen, die wohl beide auf die Ergebnisse umfassenderer Studien warten. Bei Roche sollten diese in der zweiten Jahreshälfte kommen, bei Lilly im ersten Halbjahr 2023.

Die drei Medikamentenkandidaten sind ähnliche Moleküle, die sich jedoch in Nuancen unterscheiden. Alle sind Antikörper, die an Amyloid-beta binden, das Eiweiß, das die Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten bildet. Die Unterschiede zwischen den drei (beziehungsweise vier, wenn man Aduhelm mitzählt) Antikörpern liegen in den Bindungsstellen und der bevorzugten Form von Amyloid-beta. "Hier rechnen sich Biogen und Eisai Vorteile aus, weil Lecanemab auf eine möglicherweise besonders toxische Form von Amyloid-beta zielt", sagt Christian Lach.

Patienten-Benefit gefordert

Das gleiche Argument reklamiert allerdings auch Lilly für sich - aber für eine andere Amyloid-Variante. Das zeigt, mit welchen Erkenntnislücken die Alzheimerforschung kämpft. Schließlich ist auch immer noch nicht belegt, ob die Amyloid-Ablagerungen wirklich die Ursache der Demenz sind - und ob deren Entfernung Patienten wirklich helfen kann. Insofern winken letzten Endes jenem Unternehmen Zulassung und Blockbuster-Umsätze, das wirklich eine Verlangsamung oder den Stopp des kognitiven Verfalls bei Patienten belegen kann.

Hier hat Roche mit seinem extrem aufwendigen Studienprogramm sicher Chancen, auch wenn das Medikament Gantenerumab unter Analysten häufig als der schwächste Kandidat eingeschätzt wird. Die Titel von Roche sind zwar empfehlenswert, können aufgrund des Handelsstopps für Schweizer Aktien von deutschen Anlegern seit 2019 aber nur zu erhöhten Kosten gehandelt werden.

Sollte keins der vier Produkte die Anforderungen erfüllen, wird sich der Fokus der Investoren auf alternative Wirkmechanismen richten. Einige kleine Unternehmen, die sich mit hochspekulativen anderen Ansätzen beschäftigen, stellen wir in der Investor-Info vor.
 


INVESTOR-INFO

Biogen

Spekulation auf Veränderung

Verwirrende klinische Daten und strategische Fehlentscheidungen haben dazu geführt, dass sich der Aktienkurs halbiert hat und das Unternehmen Sparmaßnahmen einleiten musste. Biogen ist am Boden. Bislang hat der Vorstand wenig Bereitschaft gezeigt, von seinem Weg abzuweichen, aber mit dem Rücken zur Wand wird vieles möglich. Wer die nötige Risikobereitschaft mitbringt, setzt auf einen Befreiungsschlag, sei es durch bessere Studienergebnisse, Zukäufe oder ein neues Management.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 240,00 Euro
Stoppkurs: 170,00 Euro

Lilly

Wette auf Wachstum

Der US-Pharmakonzern hat sich zuletzt zu einer echten Innovationsmaschine entwickelt. Neben dem etablierten Diabetes-Geschäft hat Lilly mittlerweile auch neue Medikamente im Bereich Autoimmunerkrankungen und Krebs. 2022 und 2023 sollte sich das Wachstum kräftig beschleunigen. Die Aktie ist nicht günstig, aber ein Erfolg bei Alzheimer würde eine noch höhere Bewertung allemal rechtfertigen. Zudem sind die defensiven Pharmawerte aktuell gefragt.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 300,00 Euro
Stoppkurs: 205,00 Euro

Alternative Entwickler

Risikoreiche Small Caps

Häufig stammen die Medikamente großer Konzerne ursprünglich aus den Laboren kleiner Firmen, die dann lukrative Tantiemen kassieren. So ist es auch bei Biogens und Eisais Lecanemab, das vom schwedischen Small Cap Bioarctic (WKN: A2H 5GS) entwickelt wurde. Die Firma hat noch einige weitere Alzheimer- und Parkinson-Produkte in der Pipeline und würde von einer Lecanemab-Zulassung überproportional profitieren. Roches Gantenerumab kommt von Morphosys (663 200), die allerdings das Recht auf potenzielle Erlöse weitestgehend verkauft haben. Interessante alternative Ansätze entwickeln die Schweizer AC Immune (A2A R5F) und US-Biotech Denali (A2H 9G8). Alle Titel sind hochspekulativ.