Der Schriftsteller Mark Twain soll einmal gespottet haben, dass jeder Kalendermonat sehr gefährlich für Börsianer sei. Und die Regel "Sell in May and go away" bezog sich ursprünglich auf Warentermingeschäfte und nicht auf Aktien. Kürzlich wurde in BÖRSE-ONLINE eine Studie der DZ-Bank erwähnt: Seit 1960 sollen für DAX-Anleger die Monate Oktober bis April nur ein so minimal besseres Ergebnis als die Monate Mai bis September gebracht haben, dass man diese Unterschiede getrost dem Zufall zuschreiben könne. Das lässt sich objektiv nachprüfen. Machen wir doch einmal die Probe nach folgenden Regeln: Anleger Winter startet immer mit einem DAX-Kauf zum Schlusskurs am letzten Freitag im September. Er steigt aus zum Schlusskurs am darauf folgenden letzten Freitag im April. Anleger Sommer macht es umgekehrt. Er kauft am letzten Freitag im April und verkauft am letzten Freitag im September. Beginnen wollen wir im Jahr 1960. Und wir nehmen an, dass man den DAX immer spesenfrei erwerben und wieder verkaufen konnte. Zwar gibt es den DAX erst seit Ende 1987, aber man hat ihn bis in die 50er-Jahre zurückberechnet. Beide Kontrahenten starten mit einem Kapital von 100 000 Euro.
Was wurde daraus bis zum Jahresende 2015? Das Ergebnis für den Anleger Winter scheint zunächst nicht überraschend. Aus seinen 100 000 Euro wurden ganz genau 5 491 270 Euro. Die Aktien sind seit 1960 ja kräftig gestiegen. Ein Daueranleger im DAX hingegen hätte nur gut zweieinhalb Millionen gemacht (2 571 326 Euro). Unter diesen Umständen ist es spannend, wie Anleger Sommer abgeschnitten hätte. Sein Vermögen wäre nämlich kräftig geschrumpft, von 100 000 Euro wären nur noch 46 830 Euro übrig. Angesichts dieses deutlichen Unterschieds kann man nicht mehr davon sprechen, dass die Differenzen doch nur gering sein könnten oder dass sich mit Statistik alles beweisen lasse.
Der starke Unterschied zwischen Sommer- und Wintermonaten zeigt sich auch bei anderen Aktienindizes. Ein US-Anleger, der 1960 immer in den S&P 500 investiert hätte und mit 100 000 US-Dollar gestartet wäre, hätte in den Monaten Oktober bis April 3,78 Millionen erzielt, während er in den Monaten Mai bis September Verlust gemacht hätte. Ihm wären nur noch 90 310 Dollar geblieben. Ein Euro-Stoxx-50-Anleger hätte im Winter nach den 56 Jahren 3 866 630 Euro gehabt, das Vermögen des Sommer-Anlegers wäre auf 29 160 Euro geschrumpft.
Aber warum ist das so? Genau erklären kann man es nicht. Es muss wohl mit dem Phänomen der beginnenden Urlaubszeit im Frühjahr und einer darauffolgenden Neuorientierung der institutionellen Großanleger im Herbst zusammenhängen. Ich habe nur deshalb mit dem Jahr 1960 begonnen, weil die erwähnte Studie der DZ-Bank ebenfalls 1960 startete. Würden wir nur die letzten 30 Jahre nehmen, also 1986 beginnen, wäre das Vermögen von Anleger Sommer von 100 000 Euro mit dem DAX ebenfalls weit geschrumpft, nämlich auf 48 560 Euro. Hingegen hätte Anleger Winter Ende 2015 rund 1,7 Millionen Euro auf seinem Depot. Fazit: Dass es sehr häufig eine Sommerflaute an der Börse gibt, ist kein bloßes Gerücht, sondern eine Tatsache, die man in seine Anlageentscheidungen mit einbeziehen sollte.
UWE LANG
Lang studierte Theologie und Pädagogik und war bis 1992 hauptberuflich evangelischer Pfarrer. Seit 1970 intensives Studium auch des Börsengeschehens. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Börse, wovon einige Bestseller geworden sind. Swissinvest hat eine lange und erfolgreiche Zeit hinter sich in der Entwicklung von Prognosemodellen für Aktienmärkte weltweit und in der Vermögensverwaltung.