Merck-Chef Stefan Oschmann über Lehren aus der Pandemie, den richtigen Riecher beim Konzernumbau und die Bedeutung von Nachhaltigkeit. Von J. Gross und S. Gusbeth, Euro am Sonntag

Dass sein letztes Jahr an der Spitze des Merck-Konzerns so turbulent sein würde, damit hat Stefan Oschmann sicher nicht gerechnet. Doch der jahrelange Umbau zu einem Wissenschafts- und Technologiekonzern hat sich in der Corona-Krise bewährt. 2020 stieg der Umsatz um 8,6 Prozent auf 17,5 Milliarden Euro. Der bereinigte Betriebsgewinn kletterte sogar um 18,6 Prozent auf 5,2 Milliarden Euro. Anleger freuen sich über eine Erhöhung der Dividende. Das Wachstum soll sich im laufenden Jahr fortsetzen - unter anderem dank eines Nachfragebooms nach Produkten und Lösungen für die Impfstoffherstellung.

Die Merck-Aktie hat die gute Entwicklung bereits vorweggenommen und stieg seit Anfang 2020 um 25 Prozent. Insofern ist es keine Überraschung, dass die Leser von €uro am Sonntag, €uro und Börse Online Stefan Oschmann zum Unternehmer des Jahres gewählt haben.

€uro am Sonntag: Bei der Wahl zum Unternehmer des Jahres steht für unsere Leser und uns als Anlegermagazin die Aktien-Performance im Vordergrund. Es gibt natürlich noch mehr Faktoren für unternehmerischen Erfolg. Woran bemisst der sich für Sie?

Stefan Oschmann: Die Merck-Familie, der rund 70 Prozent des Unternehmens gehören, ist einerseits sehr Kapitalmarkt-interessiert, andererseits hat sie eine sehr langfristige Ausrichtung, versteht sich als Treuhänder für die nächste Generation. Schon lange bevor die Diskussion um "Purpose" begann, also dass Unternehmen einen höheren Sinn und Zweck verfolgen sollten, war klar, dass es bei uns um mehr als Shareholder-Value geht, eben auch um die Gesellschaft allgemein, Kunden, Mitarbeiter und ihre Familien. Wenn Merck in dieser Beziehung Anerkennung bekommt, dann bin ich sehr froh darüber. Das "Wall Street Journal" hat uns unter mehr als 5.500 Unternehmen weltweit als Nummer 1 in Bezug auf soziale Ausrichtung ausgezeichnet und als Nummer 4 bei Nachhaltigkeit insgesamt. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass eine solche Ausrichtung auch finanzielle Vorteile bringt.

Sie haben als damaliger Präsident des Weltpharmaverbands schon 2016 vor einer globalen Pandemie gewarnt. Warum war die Welt nicht besser vorbereitet?

Es gab in den letzten Jahren schon Fortschritte wie die Gründung von CEPI, einer Organisation, die sich hauptsächlich um Impfstoffentwicklung für ärmere Länder kümmert. Aber Sie haben recht, die Welt hätte deutlich besser vorbereitet sein können. Da helfen jetzt aber auch keine Schuldzuweisungen. Ich bin optimistisch, dass die Menschheit doch sehr stark aus dieser Pandemie lernt und dass wir in Zukunft anders aufgestellt sein werden.

In welcher Hinsicht zum Beispiel?

Ich sehe, dass viele Regierungen sich sehr stark Gedanken über die Resilienz des Gesundheitswesens machen und auch über die Rolle der Innovation dabei. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass wir ein funktionierendes Innovations-Ökosystem brauchen, um schnell auf neue Herausforderungen, die man ja nie komplett vorhersagen kann, reagieren zu können. Da gibt es sehr viel Bewegung. Ich habe viele Gespräche mit Politikern in dem Zusammenhang.

Gibt es Lehren, die Sie daraus konkret für den Merck-Konzern gezogen haben?

Wir lernen ja alle, dass man viele Dinge digital machen kann. Wir haben bei Merck schon vor neun Jahren mit dem mobilen Arbeiten begonnen. Da gab es große Widerstände am Anfang. Ich bin so froh, dass wir bei Ausbruch der Pandemie die digitale Infrastruktur dafür hatten. Wir sehen auch, dass Kongresse immer mehr digital stattfinden, auch Kundeninteraktionen. In der Industrie bemerke ich zudem, dass es komplett neue Partnerschaften, Produktions- oder Forschungskooperationen gibt, die vor wenigen Jahren noch vollkommen undenkbar waren.

Die Covid-Impfstoffe kamen unglaublich schnell. Albert Bourla, der CEO von Pfizer, hat gesagt, er sehe gar nicht ein, zum gewohnten, viele Jahre umfassenden Zeitrahmen bei der Medikamentenentwicklung zurückzukehren. Stimmen Sie ihm zu?

Das Zulassungssystem für Arzneimittel und Impfstoffe ist in den 60er-, 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Der Fokus liegt stark auf der Risikovermeidung. Dass es dieses Zulassungssystem gibt, ist sehr gut. Es wurde aber nicht schnell genug an die aktuelle Forschung und Entwicklung angepasst. Jetzt in der Pandemie haben wir gesehen, dass wir alte Barrieren über den Haufen werfen können. Vieles an dieser schnellen Impfstoffentwicklung hängt damit zusammen, dass die Zulassungsbehörden ganz anders gearbeitet haben. Wenn wir das in Zukunft anwenden, wohlgemerkt ohne irgendwelche Kompromisse bei Sicherheit und Qualität zu machen, dann können wir in der Tat annehmen, dass der medizinische Fortschritt sehr viel schneller werden wird.

Spielen die Behörden da mit?

Im Augenblick erkenne ich eine große Offenheit. Wir haben da auch schon vor der Pandemie Bewegung gesehen.

Merck hat sich unter Ihrer Führung stark gewandelt. War der Konzern früher vor allem für die zwei Sparten Pharma und Performance-Materialien bekannt, ist heute der Bereich Life Science der größte. Was war das Motiv, diesen Bereich so stark auszubauen?

Das ist eine Entwicklung, bei der schon mein Vorgänger Karl-Ludwig Kley viel geleistet hat, was ich fortgeführt und verstärkt habe. Die Merck-Familie, die das Unternehmen seit 353 Jahren im Besitz hat, möchte eine gewisse Resilienz im Unternehmen. Wir hatten uns deshalb den Life-Science-Bereich angeschaut und gesehen, dass dieses Geschäft hochattraktiv und im Vergleich zu anderen Unternehmensbereichen weniger volatil ist.

Die Sparte weist aktuell bei Merck die höchsten organischen Wachstumsraten auf. Vor ein paar Jahren galt diese Art von Geschäft unter Investoren noch als langweilig. Was hat Sie überzeugt, sich da trotzdem zu verstärken?

Wir schauen uns in unserem Strategieprozess intensiv an, was es für große technologische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Trends gibt. Bereiche, die nah an unserem Geschäftsmodell liegen, auf die aber noch nicht jedermann setzt, sind für uns attraktiv. Als wir vor elf Jahren für damals fünf Milliarden Euro Millipore gekauft haben, war das, was Sie beschrieben haben, der Fall. Da hatte der Kapitalmarkt noch nicht verstanden, wie attraktiv dieses Geschäft ist. 2015, als wir Sigma Aldrich gekauft hatten, sah das schon anders aus. Jetzt, mit der Pandemie hat jeder verstanden, dass Life Science ein absolutes Zukunftsgeschäft ist.

Lässt sich das starke Wachstum hier fortführen?

Wie stark genau das Wachstum sein wird, das kann niemand sagen. Aber unsere Orderbücher sind gut gefüllt. Derzeit sieht es zudem so aus, als würde Covid auch weiterhin ein Faktor sein. Wenn es zum Beispiel zu einer saisonalen Impfung kommt, wie bei der Influenza. Und zusätzlich erkennen wir den Trend, dass immer mehr Länder, Regierungen und Institutionen Biologika-Produktionen aufbauen wollen.

Wollen Sie Life Science durch weitere Zukäufe verstärken, oder stehen da jetzt die anderen Sparten im Vordergrund?

Ich habe sehr viel Erfahrung damit, dieser Frage auszuweichen (lacht). Merck ist einer der aktivsten Portfoliomanager in der Industrie. Es sollte niemand annehmen, dass sich daran etwas ändert. Merck ist finanziell stark, wir machen gute Fortschritte beim Schuldenabbau, wir werden sicher zum richtigen Zeitpunkt wieder aktiv sein. Wo dann unser Kapital hinfließt, das wird das zukünftige Management entscheiden.

Dass es Synergieeffekte zwischen der Pharma- und der Life-Science-Sparte gibt, liegt auf der Hand. Aber wie sieht es damit bei der Electronics-Sparte aus?

Sie können sich vorstellen, dass Sensoren oder Wearables in der Medizin eine immer größere Rolle spielen. Digitale Medizin wird immer relevanter. Wir sind abgesehen von Samsung das einzige Unternehmen der Welt, das sich gut in Pharmaforschung, Biotech und Elektronik auskennt. Wir wollen in Zukunft noch mehr Synergien zwischen den Bereichen erzeugen.

Merck engagiert sich auf vielen Ebenen stark im Bereich künstliche Intelligenz. Was versprechen Sie sich davon konkret für das Geschäft?

Wir sind früh eine enge Partnerschaft mit Palantir eingegangen, einer der führenden Datenanalytik- Firmen der Welt. Palantir hat zum Beispiel mit Airbus ein Programm zu vorausschauender Wartung bei Flugzeugen aufgebaut. Wir haben ähnliche Projekte im Halbleiterbereich. Wenn Sie heute eine Chipfabrik bauen wollen, dann müssen Sie Milliarden investieren. Lösungen anzubieten, die vorhersagen, wo und wann es Probleme geben könnte, ist hochattraktiv.

Neben Innovation interessieren sich Investoren zunehmend für Umwelt- und soziale Faktoren. Beim Access to Medicines Index, der Pharmafirmen im Hinblick auf Forschung für die Bedürfnisse von ärmeren Ländern und den Zugang zu Medikamenten bewertet, ist Merck vom 4. auf den 8. Platz abgerutscht. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Als ich zu Merck kam, waren wir irgendwo auf den hinteren Rängen. Wir haben uns dann hochgearbeitet und sind seit Langem stetig unter den Top Ten und deutlich vor Firmen eingestuft, die viel größer sind als wir und vielleicht mehr darüber reden als wir. Ich empfinde das überhaupt nicht als Zurückfallen.

Welche Rolle spielen solche Rankings für Sie, abgesehen davon, dass sie gut oder schlecht für das Image sein können?

Heute muss ein Unternehmen glaubhaft unter Beweis stellen, dass es werteorientiert ist und Wert schafft. Dass es für die Menschheit Fortschritt bringt. In unserem Unternehmen arbeiten knapp 8.000 Forscherinnen und Forscher. Auch viele Kollegen, die nicht in der Forschung arbeiten, sind Mediziner und Pharmazeuten. Die haben ein spezielles Verhältnis dazu. Überhaupt ist es für die heutige Generation von entscheidender Bedeutung, dass man für eine Organisation arbeitet, die sinnvolle Dinge tut. Für mich übrigens auch.

Also ist das heutzutage durchaus ein wichtiger Aspekt, um Mitarbeiter gewinnen und halten zu können?

Absolut, das ist für das Recruitment essenziell. Und dann ist es ja auch finanziell validiert. Wenn Sie lesen, was Larry Fink von Blackrock zu Purpose und zu Nachhaltigkeit schreibt, ist sehr eindeutig, dass Firmen, die hier stark engagiert sind, auch unternehmerisch erfolgreicher sind.

Kann man das Engagement in ärmeren Ländern auch als Investition in eine Zukunft sehen, in der sich dort Gewinne machen lassen?

Das ist möglich. Wir werden in einer Welt mit elf Milliarden Menschen leben, die meisten davon in Asien und Afrika. Afrika entwickelt sich übrigens wirtschaftlich besser, als die meisten Menschen denken. Es wird irgendwann ein attraktiver Markt sein, da eine gute Präsenz zu haben, ist wichtig. Für chinesische Geschäftspartner ist zum Beispiel die Tatsache, dass Merck seit 88 Jahren in China ist, von größter Bedeutung.

Sie übergeben im Mai an Belén Garijo, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sehr viel in der Branche passiert. Stimmt Sie das ein bisschen wehmütig?

Gar nicht. Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass Belén meine Nachfolgerin ist. Sie ist genau die Richtige. Wir haben zehn Jahre ganz eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Sie wird dem Unternehmen eine eigene Richtung geben. Ich glaube, dass es so ähnlich wird wie bei meinem Vorgänger und mir: Wir sind ganz unterschiedliche Typen und haben jeweils unsere eigene Handschrift hinterlassen. Aber es gab auch starke Kontinuität, und das wird diesmal ebenso der Fall sein. Ich selber habe viele Pläne für die Zukunft. Das sind spannende Zeiten, und es gibt viel zu tun!
 


Unternehmen:

Innovation mit System

Das Innovation Center in Darmstadt (links) ist das Herzstück des Systems, mit dem Merck über die klassische Forschung und Entwicklung hinaus die Weichen für die Zukunft stellen will: Hier und in ähnlichen Zentren zum Beispiel in China und Kalifornien arbeiten Merck- Experten mit Start-ups und anderen Firmen zusammen.
 


Vita:

Stefan Oschmann

Der promovierte Veterinärmediziner (63) kam über Stationen bei einer Behörde der Vereinten Nationen, dem Verband der Chemischen Industrie und dem amerikanischen Wettbewerber Merck & Co. zum Darmstädter Merck-Konzern. Dort leitete er zunächst den Healthcare-Bereich. Oschmann ist verheiratet und hat zwei Kinder.
 


INVESTOR-INFO

Merck

Auf drei Säulen in die Zukunft

Mit den drei Standbeinen Healthcare, Life Science und Electronics ist der Konzern zukunftsfähig und relativ einzigartig aufgestellt. Das spiegelt sich auch in der Kursentwicklung wider. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von rund 19 für 2021 sind die Titel im Vergleich zu Aktien der Wettbewerber jedoch inzwischen recht hoch bewertet. Daraus dürfte die aktuelle Korrektur resultieren. Langfristig orientierte Anleger steigen nach der Konsolidierung des Kurses ein.