Ökonom Hans-Werner Sinn warnt vor Europas Schwäche und fordert eine politische Union mit gemeinsamer Armee – als Schutzschild gegen Putin und Trump.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn, einer der einflussreichsten deutschen Wirtschaftswissenschaftler der vergangenen Jahrzehnte, warnt in seinem neuen Buch „Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa“, das am kommenden Montag erscheint, vor einer tektonischen Verschiebung der globalen Machtverhältnisse – und vor einem existenziellen Versäumnis Europas. 

Im Gespräch mit der FAZ formuliert der langjährige ifo-Präsident seine Thesen mit einer Klarheit, die provoziert. Im Kern geht es ihm um zwei Dinge: den Wiederaufbau der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit Europas – und die Schaffung einer politischen Union mit gemeinsamer Armee.

Europas Schwäche: Wohlstandsgesellschaft statt Dynamik

„Ziemlich schlimm“, lautet Sinns ernüchterndes Urteil über die aktuelle Lage von Deutschland und Europa. Die Bevölkerung sei überaltert, die Geburtenraten zu niedrig, die Schulen nicht konkurrenzfähig, die Infrastruktur verlottert. Mit der politischen und wirtschaftlichen Dynamik anderer Weltregionen könne man so nicht mithalten.

Die EU habe sich durch Kommission, Parlament und industriepolitische Interessen in ein System manövriert, das Anreize schwäche und Wettbewerbsfähigkeit unterminiere. Sinn sieht auch hausgemachte Fehler: Deutschland habe seine Infrastruktur verlottern lassen, seine Schulen vernachlässige und zu viele Menschen finanziere, die arbeiten könnten, es aber nicht täten.

Fehlende politische Union: „Putin gegenüber stehen wir blank da“

Im Zentrum seiner Analyse steht ein Punkt, den Sinn mit großer Dringlichkeit formuliert: Europa habe die historische Chance vertan, eine politische Union zu schaffen – mit gemeinsamer Verteidigung und klarer militärischer Struktur. Sinn betonte, die europäischen Staaten hätten wegen nationalstaatlicher Eifersüchteleien versäumt, eine politische Union zu bilden. Eine solche Union sei keine Transfer- oder Währungsunion, sondern im Kern eine militärische Verteidigungsunion.

Konrad Adenauer und Helmut Kohl hätten genau dieses Ziel vor Augen gehabt. Doch am Ende sei stattdessen die Währungsunion gekommen – ohne politische Einheit, ohne Armee, ohne Schutz. Das Ergebnis: "Heute stehen wir Putin blank gegenüber und müssen Trump Schutzgeld zahlen", erklärt der emeritierte Hochschullehrer der München Ludwig-Maximilians-Universität gegenüber der Tageszeitung. 

„Amerika erpresst uns mit Schutzgeld“

Scharfe Worte findet Sinn auch für das transatlantische Verhältnis. Donald Trumps Drohungen, die NATO zu verlassen, nimmt er ernst.  Die Lehre aus dieser Entwicklung könne nur sein, dass Europa selbst handlungsfähig wird – militärisch, politisch und wirtschaftlich.

Europa müsse sich daher unabhängig absichern. Sinns Vorschlag ist radikal und historisch ambitioniert: die Gründung eines Europäischen Bundes, einer neuen Struktur außerhalb der EU-Verträge. Dieser Bund solle die Armeen der willigen Mitgliedsstaaten unter ein gemeinsames, demokratisch legitimiertes Oberkommando stellen – mit klarer Zuständigkeit für Verteidigung und Grenzsicherung.

Der „Europäische Bund“: eine Armee, ein Kommando, eine Strategie

Sinn verweist dabei auf historische Beispiele: Der Euro-Vertrag sei in nur vier Jahren entstanden. Eine Verteidigungsunion könne ebenso schnell beschlossen werden – schneller jedenfalls als die Entwicklung neuer Waffensysteme. 

Die Gründung eines Europäischen Bundes durch die Zusammenlegung der Armeen werde Putin stärker abschrecken. Der Bund könne auch Großbritannien einschließen und stünde innerhalb der NATO gleichberechtigt neben den USA. Für Frankreich, das über Atomwaffen verfügt, schlägt Sinn Kompensationen über Target-Forderungen vor.

Bürgergeld abschaffen, Migration steuern, Schulen reformieren

Neben geopolitischen Fragen spart Sinn die innenpolitischen Herausforderungen Deutschlands nicht aus. Sein wirtschaftspolitisches Reformprogramm ist ebenso klar umrissen wie provokant:

• Bürgergeld abschaffen und durch kommunal organisierte Bürgerarbeit ersetzen. 

• Migration steuern: Kein Sozialmagnetismus, stattdessen qualifizierte Zuwanderung nach kanadischem Punktesystem.

• Schulen reformieren: Leistungsanreize für Lehrer und Schüler erhöhen.

• Fehlanreize abbauen: Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag abschaffen.

Rentenreform: Renteneintrittsalter dynamisch an die Lebenserwartung koppeln und die „kinderfeindliche Grundtendenz“ der gesetzlichen Rente korrigieren.

Ein ökonomischer Weckruf – und ein geopolitischer Masterplan

Hans-Werner Sinn liefert mit seinem neuen Buch keinen gemütlichen Essay, sondern einen politischen Weckruf. In einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschieben, plädiert er für einen historischen Sprung nach vorn: eine politische Union Europas mit gemeinsamer Verteidigung, weniger inneren Fehlanreizen und mehr außenpolitischer Souveränität.

Trotz seiner drastischen Warnungen endet Sinns Buch mit einer Botschaft des Optimismus: Freihandel bleibt für ihn der Schlüssel zum Frieden. Seine Vision: ein Europa, das militärisch eigenständig, politisch geeint und wirtschaftlich offen ist – und so gegenüber Russland, China und den USA als starker Partner auftreten kann.

Sinns Buch ist damit weniger eine Analyse als ein Appell: Die aktuelle Polykrise ist nicht nur eine Bedrohung, sondern eine historische Chance, Europas politische Architektur neu zu gestalten. Es liege nun an den politischen Führungen der Mitgliedsstaaten, den Mut aufzubringen, diesen Schritt tatsächlich zu gehen – bevor andere Mächte die Lücke füllen.

Ob dieser Plan realistisch ist, wird wesentlich vom Fortgang des Krieges in der Ukraine, der Haltung der USA und der Bereitschaft Europas abhängen, alte Blockaden zu überwinden. Sinns Botschaft aber ist eindeutig: Wer Europas Wohlstand und Sicherheit erhalten will, muss mehr tun, als ihn zu verwalten.