Ab Freitag wird es hektisch. Während sich 25 000 Besucher durch das Kongresszentrum in Chicago wälzen, lauern Biotech-Investoren rund um den Globus nervös vor ihren Bildschirmen. Analysten, die sich in großer Zahl unter das Ärztepublikum gemischt haben, schicken Handy-Schnappschüsse von Präsentationsfolien und andere Info-Häppchen an ihre Kunden. Die sind nur einen Mausklick von der Kauf- oder Verkaufsorder entfernt. Das jährliche Meeting der Amerikanischen Gesellschaft für klinische Krebsforschung (ASCO) ist ein Spektakel ganz eigener Art.

Onkologie, die Krebsforschung, ist eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Geschäftsfeld der Biotech- und Pharmabranche. Bei kaum einem anderen Krankheitsbild hat es in den vergangenen Jahren so große Fortschritte beim Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen gegeben - und bei kaum einem anderen Krankheitsbild werden wirksame Therapien so dringend benötigt (siehe Investor-Info). Das macht das Gebiet für die Medikamentenhersteller auch finanziell lukrativ: Mit kleinen Studien und Produkten, die nur einen relativ geringen Überlebensvorteil erbringen, lassen sich Zulassungen erreichen und hohe Preise abrufen.

Im Fokus steht ein relativ neuer Ansatz, um den Krebs in seine Schranken zu verweisen: "Die Immuntherapie ist 2014 das Thema schlechthin", sagt Felicia Flanigan vom BB-Biotech- Managementteam. Dahinter stecken Strategien, um Tumorzellen für das körpereigene Immunsystem wieder sichtbar zu machen, sodass es die Erkrankung selbst bekämpft. Krebszellen können sich mit verschiedenen Taktiken vor der potenten Immunabwehr verstecken.

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Ein Checkpoint macht Furore

Mit einem Wirkstoff, der einen dieser Mechanismen abschaltet, sorgte der US-Konzern Bristol-Myers Squibb im vergangenen Jahr für Furore. Inzwischen liefern sich Bristol, Roche, Merck & Co. sowie AstraZeneca ein Rennen um die Vorherrschaft bei diesen sogenannten Checkpoint-Inhibitoren. Nicht weit dahinter liegt eine ziemlich unübersichtliche Menge von kleinen und größeren Unternehmen, die ebenfalls diesen oder weitere Immuntherapieansätze verfolgen. In der Branche kursiert die Schätzung von 35 Milliarden Dollar - pro Jahr, wohlgemerkt -, die in zehn Jahren mit dieser Medikamentenklasse erzielt werden könnten.

"Es sind wirklich abenteuerliche und naive Studien zu dem Thema im Umlauf", sagt Rudi van den Eynde, Manager des Candriam-Biotechnology- Fonds. "Immuntherapien können Krebs für die meisten Patienten weder heilen noch zu einer chronischen Krankheit machen. Womöglich sind sie am Ende nicht einmal besser als Chemotherapie, aber es ist noch viel zu früh, das zu beurteilen. Da haben sich extrem hohe Erwartungen aufgebaut."

Enttäuschungen sind also programmiert, falls die in Chicago präsentierten Forschungsergebnisse nur gut und nicht herausragend ausfallen. In den vergangenen Jahren hat es nach dem ASCO-Meeting meist eine kurze Verkaufswelle bei Onkologie-Aktien gegeben. Anleger können sich also ruhig Zeit lassen, bis der größte Hype abgeklungen ist, und dann bei attraktiven Werten zu realistischeren Preisen einsteigen.

Auch wenn es noch immer nicht "den" großen Durchbruch gab, so bietet die Krebsforschung in der Tat reichlich vielversprechende Wirkstoffentwicklungen. Und sie schließen sich keinesfalls gegenseitig aus. "Am Ende muss man für die Behandlung vermutlich alles zusammen nutzen: Chemotherapie, zielgerichtete Therapien wie die neuen Kinaseinhibitoren, und eben Immuntherapeutika", sagt Christian Lach, Branchenspezialist von der Schweizer Vermögensverwaltungsgesellschaft Adamant. "Nur so besteht eine Chance, das Grundproblem bei Krebs zu überwinden: dass nämlich irgendwo im Körper noch Tumorzellen verbleiben und die Krankheit immer wieder zurückkommt."

Viele Unternehmen haben bereits begonnen, zusammen Kombinationsstudien durchzuführen. Der USPharmariese Merck zieht mit seinem Checkpoint-Inhibitor MK-3475 zum Beispiel nicht nur Studien bei über 20 Krebsarten durch, sondern auch gemeinsame Untersuchungen mit Entwicklungen der Konkurrenten Amgen, Pfizer und Incyte. "Die Zahl der möglichen Kombinationen ist überwältigend", sagt Candriam-Analyst Ward Capoen.

Weil die Konkurrenz so groß ist und die Krebstherapie sowieso auf Kombinationen hinausläuft, können gute Ergebnisse aus solchen Studien den Firmen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wenn die Medikamente erst einmal zugelassen sind. Die großen Pharmafirmen liegen vorn, weil sie sich die Vielzahl teurer Untersuchungsreihen eher leisten können als kleinere Unternehmen. Ohnehin kommen die am weitesten fortgeschrittenen Immuntherapie-Projekte allesamt aus den Laboren der Top-Ten-Pharmahersteller - ein in den vergangenen Jahren eher ungewohntes Bild.

Daraus zu schließen, die kleineren, jüngeren Unternehmen hätten den Anschluss verloren, wäre aber ein großer Fehler. Die Produkte, dank derer Bristol-Myers, Roche und AstraZeneca gerade im Immuntherapie- Rennen vorne liegen, stammen ohne Ausnahme aus Übernahmen von Biotech-Unternehmen vor fünf bis sieben Jahren. "Big Pharma holt auf, aber die richtigen Innovationen kommen in der Regel immer noch aus kleineren Firmen", sagt Rudi van den Eynde.

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Wichtige Kontaktbörse

Veranstaltungen wie die ASCO-Konferenz sind dabei der bewährte Rahmen, um lukrative Partnerschaften oder Akquisitionen anzubahnen. So kaufte Bristol-Myers Squibb 2009 für 2,4 Milliarden Dollar das US-Biotechunternehmen Medarex nur wenige Wochen, nachdem auf der Krebskonferenz überraschend gute Daten aus Studien mit dem Mittel Yervoy bekannt geworden waren. Yervoy ist der allererste Vertreter der neuen Generation von Immuntherapien und bescherte Bristol-Myers 2013 knapp eine Milliarde Dollar Umsatz.

Auch voriges Jahr verfehlte die Konferenz mit ihren Tausenden von Präsentationen ihre Wirkung auf den Markt nicht. "Im zweiten Halbjahr haben wir zahlreiche Deals im Onkologiesektor gesehen", erinnert sich Christian Lach von Adamant. "Wer auf der ASCO gute Daten zeigt, bringt sich dadurch in eine sehr gute Verhandlungsposition für Kollaborationen - oder wird gar zum Übernahmeziel."

Die Aufmerksamkeit eines potenziellen Entwicklungspartners will wohl auch die Berliner Mologen erregen. Sie ist mit Studienergebnissen zu ihrem Wirkstoff MGN-1703 in Chicago vertreten. Beobachtet wurden Darmkrebspatienten. "Unser Produkt, das eine breite Aktivierung des Immunsystems bewirkt, könnte auch mit Checkpoint-Inhibitoren kombiniert werden", sagt Vorstandschef Matthias Schroff. "Natürlich haben wir unsere Fühler dahingehend ausgestreckt und befinden uns in Diskussionen." Der Mologen-Chef Schroff strebt für MGN-1703 eine Partnerschaft an und erwartet, dass Anfang 2015 zusätzliche klinische Daten diesen Prozess weiter vorantreiben können.

Ein kleiner Schub für den Aktienkurs ist möglicherweise für Morphosys drin: Mehrere Partner der Münchner zeigen in Chicago neue Daten.

Mehr als genug Interesse - sowohl seitens der Branche als auch der Börse - wird Incyte und Clovis auf der ASCO entgegengebracht. Die beiden US-Firmen zählen zu den mit Abstand am häufigsten genannten Namen, wenn es um potenzielle Stars der diesjährigen Konferenz geht.

Incyte ist mit 7,9 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung schon ein Dickschiff der Branche mit einem zugelassenen Krebsmedikament. Für Aufmerksamkeit sorgt vor allem Incytes sogenannter IDO-Inhibitor, weil er einen weiteren das Immunsystem dämpfenden, molekularen Schalter auf Tumorzellen löst. Incyte hat dazu bereits mit Merck und AstraZeneca Kombinationsstudien vereinbart. Der Wirkstoff, zurzeit in der zweiten klinischen Entwicklungsphase, könnte sich als ideale Ergänzung erweisen.

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Überreaktionen der Börse

Clovis Oncology ist mit 1,4 Milliarden Dollar Börsenwert noch ungleich kleiner. Von den insgesamt drei Medikamentenkandidaten sticht besonders CO-1686 hervor. Der Wirkstoff wurde für Krebspatienten entwickelt, die gegen die Therapie mit Wirkstoffen der vorherigen Generation resistent sind. AstraZeneca verfügt über ein ähnliches Molekül, beide haben bislang mit hohen Ansprechraten geglänzt. Von Clovis’ ASCO-Publikationen erhoffen sich Investoren Hinweise darauf, welches Unternehmen gerade die Nase vorn hat.

Die erste Reaktion der Börse ist bei solchen Kopf-an-Kopf-Rennen nicht immer die richtige. "Der Teufel steckt bei Studienergebnissen wirklich im Detail", sagt Rudi van den Eynde von Candriam. Die Einzelheiten erschließen sich erst später. Nach dem 3. Juni, wenn der Marathon vorüber ist.

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