€uro: Herr Röttgen, wie sehr schadet der Brexit der EU geopolitisch?
Norbert Röttgen: Ein Austritt Großbritanniens wäre die größte Katastrophe in der Geschichte der europäischen Integration und eine geopolitische Schwächung der EU. Das Beste wäre darum, wenn er nicht stattfindet.

Nicht nur der Brexit droht, die EU zu schwächen. Es gibt ernste Sorgen, dass bei der Europawahl Ende Mai die Europa-Befürworter keine Mehrheit im EU-Parlament ­erreichen. Steht die EU am Scheideweg?
Ja, wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Wir müssen uns fragen: Welches ­Europa wollen wir in Zukunft? Wollen wir es überhaupt noch? Oder kehren wir zu altem Nationalismus zurück? Viele von uns dachten, diese Fragen seien ein für alle Mal geklärt. Aber nun werden sie wieder gestellt. Deshalb hat die Europawahl eine schicksalhafte Bedeutung.

Während Europa mit sich selbst beschäftigt ist, verschieben sich durch den Rückzug der USA als Ordnungsmacht inter­national die Gleichgewichte. Was steht für Europa auf dem Spiel?
Die innere Zerrissenheit der EU führt dazu, dass wir an dem entbrannten Wettbewerb von Großmächten nicht aktiv teilnehmen. Man kann das mit einem Sportler bei einem Wettrennen vergleichen: Wir schnüren un­sere Schuhe und diskutieren die ganze Zeit über das Trikot, während die anderen längst losgelaufen sind.

Was müsste die EU tun, um international wieder mitzuspielen?
Wir müssen als EU den Willen aufbringen, relevant zu sein, um unsere Interessen und die Interessen unserer Bürger zu vertreten. An diesem kollektiven Willen fehlt es zurzeit. Deshalb kommen wir auf der Ebene der 28 oder 27 Staaten an vielen Stellen nicht weiter. Das gilt vor allem im wichtigen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.

Welchen Ausweg sehen Sie?
Wir haben lange genug analysiert, wie sich die Welt verändert, jetzt geht es um Taten. Ich plädiere für folgende Lösung: Es sollten die Staaten vorangehen, die davon überzeugt sind, dass wir unsere Außenpolitik europäisieren müssen, weil jeder für sich allein zu wenig bewirkt. Sobald drei oder vier europäische Länder sich zusammenschließen, sind wir einflussreich. Länder wie Deutschland, Frankreich, auch Großbritannien trotz eines möglichen Brexits, hoffentlich Polen und andere sollten ihre Kräfte bündeln und einen gemeinsamen Plan entwickeln für den Mittleren Osten, für den Umgang mit Russland und China.

Skeptiker würden sagen, das bedeute ­endgültig ein Europa der zwei Klassen.
Nein, jeder kann mitmachen. Ich glaube, es ist der einzige Weg, etwas voranzubringen. Wenn wir auf die aktuellen geopolitischen Veränderungen keine europäische Antwort finden, erweisen sich Europa und die EU als politisch ohnmächtig.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von dem Appell des französischen Präsidenten Macron "Europa neu beginnen"?
Das Entscheidende an Macrons Vorschlägen ist, dass er welche macht. Manche seiner ­Ideen finde ich nicht überzeugend, aber darum geht es nicht in erster Linie. Wir müssen zeigen, dass die EU handlungsfähig ist, und mit einem konkreten Bereich anfangen. Das könnte eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sein. Oder ein Technologieprojekt, zum Beispiel ein "5G-Airbus", also eine europäische Initiative in der Informations- und Kommunikationstechnik für den Mobilfunkstandard 5G, ähnlich wie bei Airbus in der Flugzeugindustrie. Die Botschaft an die Bürger muss lauten: Wir schützen eure Interessen und Bedürfnisse.

Warum würde sich 5G da eignen?
5G ist das digitale Nervensystem der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates. Darum ist die Sicherheit von 5G eine Frage der ­na­tionalen Sicherheit. Ich halte es für technologisch, wirtschaftlich und politisch ­geboten, hier eine europäische Lösung zu finden und den Aufbau dieser strategisch wichtigen ­In­frastruktur nicht Firmen aus den USA und China zu überlassen. Deshalb plädiere ich für eine europäische Sicherheitsstrategie, die gleichzeitig eine Techno­logie- und Wirtschaftsstrategie ist. Das ist vielleicht teurer, aber das sollte uns unsere Sicherheit wert sein.

Auf Seite2: Apropos USA, ...



Apropos USA, Sie sind überzeugter Trans­atlantiker. Wie empfinden Sie es, dass ein US-Präsident die EU als Gegner in Handelsfragen und deutsche Autos als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet?
Es macht mich traurig, dass ein Land, mit dem wir eng verbunden sind, dem wir viel zu verdanken haben, mit dem wir gemein­same Werte teilen, jetzt eine Führung hat, die sich von diesem Konsens verabschiedet hat. Deshalb wechsle ich aber nicht meine Überzeugung. Und es gibt viele amerika­nische ­Politiker, die meine Enttäuschung ­teilen und genauso den Willen haben, dass es ­wieder anders werden muss.

Ist die Welt unter US-Präsident Donald Trump unsicherer geworden?
Die Welt ist ungeordneter geworden. Ich würde sogar den Satz wagen: Die Welt ist ­eine andere geworden. Trump hat die ame­rikanische Nachkriegspolitik beendet und die internationale Ordnungsrolle Amerikas explizit aufgegeben. Und diese Rolle wird auch nach Trump nicht wiederkommen.

Welche Folgen hat das?
Ohne amerikanischen Führungswillen kommen wir nicht recht voran. Es kommen immer nur neue Konflikte dazu, und keiner wird gelöst. China will die USA als Ordnungsmacht nicht ersetzen, von Russland und der EU ganz zu schweigen.

Warum will China nicht?
China gehört zu den wenigen Ländern, denen ich eine langfristige Strategie attestiere mit dem Ziel der Rückkehr zu historischer Größe, aber im modernen Zeitalter. Aber das ist kein Programm für die Welt, sondern ein Programm für China. Das wird beispielsweise im Südchinesischen Meer sehr deutlich, auf das China völkerrechtswidrig Anspruch erhebt. Das ist gerade für uns Deutsche hochbedeutsam, weil 90 Prozent unserer Asien-Exporte auf dem Seeweg durch dieses Meer transportiert werden. Hier sind die USA übrigens noch präsent und treten als einzige relevante Macht für die internatio­nale Ordnung ein.

Gibt es etwas an Trumps Politik, das Sie gut finden?
Teile von Trumps China-Politik finde ich nicht falsch. Man muss China als Wettbewerber, zum Teil sogar als Rivalen sehen und auf dem Abbau unfairer Handelspraktiken bestehen. Es war an der Zeit, dass wir dem chinesischen Narrativ und Xi Jinping, der sich in der Rolle des Fürsprechers von Freihandel und Multilateralismus präsentiert, etwas entgegensetzen. Aber dieser ­Ansatz ist mit einem Handelskrieg in typisch Trump’scher Weise leider ins Maßlose gesteigert worden.

Wie sollte die EU mit dem internationalen Machtzuwachs Chinas, etwa durch die ­Seidenstraßen-Initiative, umgehen?
Wir sollten wachsam und realistisch sein, aber China nicht dämonisieren. China ist gleichzeitig Partner, Wettbewerber und ­Rivale. Beim Kampf gegen den Klimawandel verfolgen wir ähnliche Interessen. Wirtschaftlich ist China ein Wettbewerber, gegenüber dem wir auf einen fairen Wettbewerb bestehen müssen. Und China ist auch ein ­Rivale, machtpolitisch wie ideologisch. Bei dieser Machtausdehnung, sei es im Süd­chinesischen Meer oder in Teilen der Seiden­straßen-Initiative "Belt and Road", müssen wir China entgegentreten. Dabei macht eine deutsche China-Strategie nur begrenzt Sinn, eine europäische viel mehr und eine trans­atlantische am allermeisten.

Die EU-Kommission hat im März ihre China-Strategie vorgestellt. Reicht das aus?
Europa ist wach geworden, etwas spät, aber nicht zu spät. Das Zehn-Punkte-Papier ist ein enormer Fortschritt, weil es zeigt, dass wir Politik gestalten können. Es ist die Basis für eine europäische Strategie, die auch für ­Bürger sichtbar macht, wie wichtig es ist, dass es Europa gibt.

Bei dem aktuellen Kräftemessen zwischen China und den USA, etwa im Zollstreit, ­worum geht es da wirklich? Nur um Wirtschaft? Um Macht? Um beides?
Sie haben die beiden Punkte benannt. Als Außenpolitiker würde ich die Reihenfolge umdrehen, aber ansonsten nicht wider­sprechen. Es geht um geopolitische Macht und um wirtschaftliche Vorteile.

Wenn es zu einer Einschränkung des Freihandels käme, welche Auswirkungen hätte das auf die internationale Politik?
Es ist die Rückkehr der Großmachtpolitik aus handelspolitischer Sicht. Diese Form von Deglobalisierung zeigt, dass Großmacht­politik ihre Kosten hat. Freihandel bringt Wohlstandsgewinne. Wer Grenzen hochzieht, macht die Menschen unter dem Strich ärmer, nicht reicher. Wer sich wirtschaftlich abschottet, setzt auch in der Politik weniger auf kooperative Lösungen. Sichtbar wird das beispielsweise im Bereich Rüstung. Großmachtpolitik heißt, jeder rüstet auf, um ­stärker zu sein als der andere. Das ist das Trump’sche Denken: Ich kann nur einen Vorteil erreichen, wenn der andere einen Nachteil hat.

Wie viel steht für Deutschland, das stark von Exporten abhängt, auf dem Spiel?
Ziemlich viel. Handel zu treiben ist die entscheidende Grundlage unseres Wohlstands.

Tun wir genug, um das zu verteidigen?
Ich glaube, wir vermitteln der Bevölkerung zu wenig, wie ernst die Lage ist. Der gegenwärtige Wohlstand ist nicht gesichert. Wir müssen mehr dafür tun, dass der Freihandel erhalten bleibt. Als Welthandelsmacht spielt die Europäische Union eine starke Rolle. Aber wenn man die sicherheitspolitischen Aspekte betrachtet, wie das Südchinesische Meer, dann leben wir von der Freiheit, die andere für uns schützen. Da tun wir als EU zu wenig und werden dafür auch zu Recht von unseren Partnern kritisiert. Freiheit und Sicherheit sind nicht zum Nulltarif zu haben, hier müssen wir deutlich mehr investieren und auf den Ausbau von gemeinsamen Fähigkeiten setzen.

Zur Person: Norbert Röttgen (53) tritt schon in der Schulzeit in die CDU ein. Seit 1994 ist er ­Mitglied des Bundestags. In der schwarz-gelben Bundes­regierung unter Kanzlerin Angela Merkel wird der promovierte Jurist 2009 Bundesumweltminister. 2012 tritt er als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen an. Die CDU verliert die Wahl und Röttgen sein Ministeramt. Seit 2014 leitet er den Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Er setzt sich als Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke für das deutsch-amerikanische Verhältnis ein. Röttgen ist verheiratet und hat drei Kinder.