Vom Online-Buchladen zum KI-Pionier: Der Techriese Amazon steigert systematisch seine Marge und bereitet sich auf einen neuen großen Entwicklungssprung vor.
Sommer 1995. Der neue und etwas seltsame Buchladen am Rande der Innenstadt von Seattle besteht aus einem Büro und einem fensterlosen Lagerraum im Untergeschoss. Eine Klingel signalisiert die erste Bestellung: Ein Kunde aus Kalifornien möchte ein Buch des Physikers Douglas Hofstadter. Die Wahl ist im Rückblick wie eine Prophezeiung: In dem Werk geht es um künstliche Intelligenz. Amazon, so der Name des Buchladens, ist heute selbst eine der treibenden Kräfte bei der Entwicklung von KI. Auch bei einem Jahresumsatz von inzwischen 638 Milliarden Dollar ist Amazon noch immer ein Wachstumswert. Und Beispiel, wie Unternehmen neue Geschäftsfelder nicht nur erobern, sondern kreieren können.
Das alte Kerngeschäft, der Onlinehandel, lieferte im vergangenen Jahr 39 Prozent des Konzernumsatzes. Die Gewinnspanne allerdings ist niedrig. Nichts, was Börsianer in Begeisterung versetzen würde. Spannend sind Geschäfte, die Amazon über die Jahre neu erschlossen hat. Stärkster Wachstumstreiber mit einem Umsatzplus von 19 Prozent im vergangenen Quartal: Werbung. Der Anteil am Gesamtvolumen des Konzerns liegt erst im einstelligen Prozentbereich, die operative Marge aber wird von Analysten auf imposante 50 Prozent taxiert. Da Kunden auf den Amazon-Seiten viele Daten hinterlassen, kann gezielt Werbung platziert werden und das quer über das Amazon-Imperium, also auch den Video- Streamingdienst Prime oder die Spieleplattform Twitch.
Der wertvollste Teil des Konglomerats ist ein Bereich, den der Techriese eher zufällig entdeckt hat: die Cloud-Sparte AWS.
Während Amazon über die Jahre für seine Onlineplattform viel Geld in leistungsstarke Server, Speicherplatz und Software investierte, kam der Gedanke, diese Infrastruktur auch anderen Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Natürlich gegen Bezahlung. Im vergangenen Quartal steigerte AWS den Umsatz um 17 Prozent. Der Umsatzanteil der Sparte liegt bei knapp einem Fünftel. Die Marge beträgt rund 39 Prozent. Die Analysten von Needham kalkulieren, dass AWS mehr als 40 Prozent des Gesamtwerts von Amazon ausmacht.
Die Wachstumstreiber der Zukunft
Wohin kann sich Amazon entwickeln? Die beiden lukrativsten Sparten haben ihr Potenzial noch nicht ausgereizt. Je komplexer die technologischen Anforderungen werden, desto mehr Unternehmen werden auf professionelle Dienstleister wie AWS wechseln. KI-Anwendungen dürften diesen Prozess beschleunigen. Das Werbegeschäft sollte allein schon über die Expansion der Geschäftsbereiche wachsen. Das Videoangebot von Prime beispielsweise, das Kunden an den Onlineshop binden soll, entwickelt sich immer mehr zu einem kompletten Streamingsender und bietet damit immer mehr Möglichkeiten, Werbung zu platzieren. Das große Zukunftsthema auch bei Amazon ist künstliche Intelligenz.
Dank AWS kann Amazon auf die eigene Kompetenz setzen. KI wird Prozesse vereinfachen, Kosten drücken und die Nachfrage bei Kunden stimulieren. In den großen Warenlagern dürften Roboter immer mehr Arbeiten übernehmen, irgendwann auch bei der Auslieferung. Durch die Kombination aus Kundendaten und technologischer Expertise ist Amazon bestens positioniert für den nächsten großen Entwicklungssprung: der KI-Assistent. „Ein guter persönlicher Assistent kann praktisch jede Frage beantworten und Dinge in Ihrem Namen erledigen“, erklärt Konzernchef Andrew Jassy, der den Posten im Sommer 2021 von Gründer Jeffrey Bezos übernommen hat, das Konzept. Amazons wichtigste Mitarbeiterin in diesem Sinne ist ein Computerprogramm: Alexa. Jassy: „Wir haben heute über 600 Millionen Alexa-Geräte im Umlauf und erwarten, dass Alexa+ in Zukunft eine noch wichtigere Rolle im Leben dieser Hunderte von Millionen Kunden spielen wird.“
Amazon ist nicht das, was es mal war
Trotz der eindrucksvollen Erfolgsstory hat Amazon unter Börsianer immer wieder Mal für Verunsicherung gesorgt. Das Management scheut sich nicht, den oft auf Quartale begrenzten Horizont der Wall Street zu ignorieren. Das liegt quasi in der DNA von Amazon. „Es geht um die Langfristigkeit“, schrieb Bezos bereits im Geschäftsbericht des Jahres 1997. Vor allem ein Trend fällt mit etwas Distanz auf: Amazons Transformation von einem Produktverkäufer zu einem Serviceanbieter und damit eine strukturelle Verschiebung zu Geschäftsfeldern mit höheren Margen. Needham schätzt, dass Service bereits 58 Prozent des Umsatzes und mehr als 90 Prozent des operativen Gewinns von Amazon liefert. KI dürfte diesen Trend verstärken.
Hinweis: Dieser Text stammt aus der BÖRSE ONLINE 22/25. Hier geht es zum Heft.
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