Auf den Bayer-Konzern kommt im Zuge der Monsanto-Übernahme eine milliardenschwere Anleger-Schadenersatzklage in Deutschland zu. Die Tübinger Anwaltskanzlei Tilp lässt vom Oberlandesgericht Köln in einem sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahren prüfen, ob der Chemie- und Pharmakonzern die Aktionäre bei der 63 Milliarden Dollar schweren Übernahme getäuscht hat. Tilp vertritt 250 institutionelle Investoren und zahlreiche Privatanleger, die bislang insgesamt 1,5 Milliarden Euro fordern. Gegenüber boerse-online-de erläutert Tilp-Anwalt Christian Herrmann, wer Ansprüche geltend machen kann, um welche Schäden es geht und was er sich von dem Verfahren verspricht.

Boerse-online.de: Welche Bayer-Aktionäre können sich der Anleger-Sammelklage gegen Bayer jetzt noch anschließen und bis wann?
Christian Herrmann: Nach unserer Überzeugung stehen allen Anlegern, die Aktien der Bayer AG im Zeitraum vom 14. September 2016 und 19. März 2019 erworben haben, Schadensersatzansprüche gegen die Bayer AG zu. Betroffene Anleger müssen jedoch schnell handeln, denn mit Ablauf des 31. Dezember 2021 drohen die Ansprüche zu verjähren. Im Fall Bayer hat das Landgericht Köln durch die öffentliche Bekanntmachung des von Tilp gestellten Musterverfahrensantrages im Bundesanzeiger die erforderlichen Weichen für die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) gestellt.

Was werfen Sie Bayer im Zusammenhang mit der 63 Milliarden Euro schweren Monsanto-Übernahme konkret vor?
Die klagenden Investoren werfen Bayer insbesondere vor, den Kapitalmarkt über die wirtschaftlichen Risiken getäuscht zu haben, welche die in den USA anhängigen Verbraucherklagen im Zusammenhang mit Glyphosat und dem Unkrautvernichtungsmittel Roundup für Bayer infolge der Monsanto-Übernahme mit sich brachten. Im Zeitraum zwischen der Verkündung des ersten glyphosatbezogenen Urteils im Fall von Dewayne Johnson am 10. August 2018 und dem zweiten Urteil im Fall von Edwin Hardeman am 28. März 2019 sank der Kurs der Bayer-Aktie von über 93 Euro auf circa 56 Euro und damit um knapp 40 Prozent. Die Schäden der Anleger durch diese immensen Kursverluste sind Gegenstand der jetzigen Klagen.

Bayer sagt, man habe sich an die Gesetze gehalten und sei den Veröffentlichungspflichten nachgekommen. Wie sehen Sie es?
Nach unserer Rechtsauffassung war für Bayer bereits spätestens mit Unterzeichnung der Übernahmevereinbarung am 14. September 2016 klar, dass die Übernahme von Monsanto mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken verbunden ist, die dem Kapitalmarkt in Art und Umfang nicht bekannt waren. Hieraus resultierte die Pflicht zur Veröffentlichung entsprechender Ad-hoc Mitteilungen, was Bayer nach unserem Dafürhalten pflichtwidrig unterlassen hat. Soweit sich Bayer in der Öffentlichkeit damit verteidigt, der Vorstand habe innerhalb des aktienrechtlich zulässigen, das heißt innerhalb der sogenannten Business-Judgment-Rule gehandelt, kann sich Bayer damit im Hinblick auf kapitalmarktrechtliche Ansprüche wegen unterlassener Kapitalmarktinformationen nicht entlasten. Für die Haftung gegenüber geschädigten Investoren ist es unerheblich, ob den Vorstandsmitgliedern von Bayer gegenüber dem eigenen Unternehmen eine Sorgfaltspflichtverletzung anzulasten ist oder nicht. Die sogenannte Business-Judgment-Rule wirkt nur im Verhältnis der Vorstandsmitglieder zur Gesellschaft. Gänzlich unabhängig hiervon ist aber die Frage zu beantworten, ob das Unternehmen den Kapitalmarkt pflichtgemäß informiert hat oder nicht.

Welcher Schaden ist den Bayer-Aktionären insgesamt entstanden?
Die von uns vertretenen Investoren verlangen von Bayer die Zahlung von Schadensersatz in Höhe von über 1,5 Milliarden Euro. In Summe wurden zwischen dem ersten Urteil im Fall von Dewayne Johnson am 10. August 2018 und der Entscheidung im Fall Hardeman im März 2019 jedoch über 30 Milliarden an Marktkapitalisierung vernichtet. Der sämtlichen Aktionären tatsächlich entstandene Schaden übersteigt die von uns geltend gemachten Schäden daher um ein Vielfaches.

Wie viele Privatanleger vertreten Sie, und welche institutionellen Investoren?
Wir vertreten insgesamt über 300 Kleinanleger und institutionelle Investoren.

Haben Sie eine Vorstellung, mit welchem Musterkläger Sie ins Verfahren gehen?
Heute kann noch keine seriöse Angabe über den zukünftigen Musterkläger im Fall Bayer gemacht werden. Selbstverständlich eignen sich institutionelle Investoren besonders gut für diese Stellung, doch auch Privatanleger können die Interessen der Kläger erfolgreich vertreten. So hat das Oberlandesgericht Stuttgart unlängst einen von TILP vertretenen Privatanleger zum Musterkläger im Musterverfahren gegen die Daimler AG bestimmt.

Erst vor Kurzem ist das Kapitalanleger-Musterverfahren der Telekom mit einem Vergleich zu Ende gegangen. Wenn man den zwei Jahrzehnte dauernden Telekom-Prozess vor Augen hat: Wo stehen Sie beim Bayer-Verfahren, und wie lange könnte es sich hinziehen?
Im Fall Bayer stehen wir derzeit noch am Anfang. Realistisch scheint derzeit, dass das Landgericht Köln im Laufe des Jahres 2022 den Vorlagebeschluss erlässt und das Oberlandesgericht Köln im Anschluss daran einen Musterkläger bestimmt. Richtig losgehen dürfte die inhaltliche Klärung des Falles daher erst im Jahr 2023. Die Erfahrung mit vergleichbaren Fällen zeigt, dass mit einer Verfahrensdauer von mindestens fünf Jahren zu rechnen ist. Mit einem zweiten Fall Telekom rechnen wir indes nicht.

Halten Sie bei Bayer einen Vergleich wie im Telekom-Verfahren für möglich?
Ein Vergleich kann ein sinnvolles Mittel sein, um einen Rechtsstreit zügig und für alle Beteiligten zufriedenstellend zu beenden. Erstrebenswert ist ein solcher Vergleich freilich nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und der Vergleich für alle Parteien einen akzeptablen Kompromiss darstellt. Die von uns vertretenen Bayer-Investoren stehen einem Vergleich grundsätzlich offen gegenüber.