Die einen zogen Vergleiche zum biblischen Lazarus, der von den Toten auferweckt wurde, den anderen fehlten die Wor­te. "Waaaas?!?!?!" mit drei Frage- und Ausrufezeichen war einer der vornehmer formulierten Tweets, mit denen Biotechanalysten und Journalisten am vergangenen Dienstag ihrer absoluten Fassungslosigkeit Ausdruck verliehen.

Fast auf den Tag genau sieben Monate, nachdem Biogen die Studien mit dem Wirkstoff Aducanumab gegen Alzheimer gestoppt hatte, weil eine Zwischenanalyse dem Medikament Wirkungslosigkeit attestiert hatte, schlug die Meldung ein wie eine Bombe: "Biogen plant Zulassungsantrag für Aducanumab bei Alzheimer auf der Grundlage einer neuen Analyse eines größeren ­Datensatzes." Anfang 2020 will der Konzern die US-Zulassungsbehörde FDA um eine Vermarktungserlaubnis ersuchen, nachdem diese in mehreren Treffen offenbar dazu ermutigt hat.

Biogens Aktienkurs schoss in der Spitze um 42 Prozent in die Höhe und schloss am Dienstag mit 26 Prozent im Plus - ein Zuwachs an Marktkapitalisierung um fast 13 Milliarden Dollar. Auch die Kurse von Bioarctic, Kooperationspartner von Biogen und Eisai bei einem weiteren Wirkstoffkandidaten gegen Demenz, sowie von Firmen, die ebenfalls Alzheimerprodukte erforschen (Vivoryon, Morphosys und Roche), stiegen.

Es gibt kein Medikament, das Alzheimer ursächlich bekämpft, also den kog­nitiven Verfall stoppen oder zumindest aufhalten kann. Angesichts der steigenden Lebenserwartung - Demenz­erkrankungen treten in der Regel erst im hohen Alter auf - besitzt der Markt ein riesiges Potenzial. Ein wirksames Mittel könnte wohl mehr als zehn Milliarden Dollar Umsatz erreichen - pro Jahr. Doch bis jetzt sind alle Bemühungen, so ein Produkt zu entwickeln, fehlgeschlagen. Nach dem Stopp der Aducanumab-Studien im März wurde das ­gesamte Verständnis der Krankheit infrage gestellt. Die sogenannte Amyloid­hypothese, wonach Eiweißablagerungen im Gehirn für die Demenz verantwortlich sind, galt als hinfällig.

Wie kam es also zu der erstaunlichen Kehrtwende? Anfang des Jahres gab ­Biogen bei unabhängigen Experten eine Zwischenanalyse der beiden laufenden Aducanumab-Studien in Auftrag. Basis waren die bis Dezember 2018 gesammelten Daten. Als das negative Ergebnis der Zwischenanalyse im März feststand, wurden die Studien beendet.

Nun haben Biogen-Wissenschaftler alle Daten bis März 2019 untersucht. Dass sie dabei zu einem anderen Ergebnis kommen, führen sie auf Veränderungen zurück, die im Lauf der Studien vorgenommen wurden: Zunächst dosierte man sehr vorsichtig und setzte die Behandlung aus, wenn Ödeme im Hirn auftraten. Als sich diese Nebenwirkung als reversibel erwies, wurden mehr Patienten weiterbehandelt und mehr erhielten die höchste Dosis. Bei eben dieser Dosis zeigten Patienten dann in der einen Studie eine moderate Verlangsamung des kognitiven Verfalls. In der zweiten Studie, wo weniger Probanden die hohe Dosis längere Zeit bekamen, war der Effekt nicht zu sehen.

Um es klar zu sagen: Aducanumab kann Alzheimer nicht heilen. Und die Datenbasis für den beobachteten Effekt ist mit einer positiven und einer unklaren bis negativen Studie wacklig. Dass es sich um ein falsches positives Signal, ein statistisches Artefakt handelt, kann nicht ausgeschlossen werden. Sowohl Alzheimerforscher als auch Analysten zeigen sich eher skeptisch, vor allem im Licht der vergangenen Fehlschläge.

Mehr Details zu dem in der Branche einzigartigen Vorgang will Biogen auf einem Kongress Anfang Dezember präsentieren. Die FDA wird wahrscheinlich ein Expertengremium über den Zulassungsantrag beraten lassen. Möglicherweise wird sich dieses gegen eine Zulassung und für eine weitere Studie aussprechen. Vielleicht empfiehlt die Gruppe aber auch, Aducanumab auf den Markt zu bringen, weil der Bedarf so riesig ist. Dann könnte es jedoch immer noch zu Problemen mit den Krankenversicherungen kommen. Denn die Versorgung aller Patienten mit frühen Demenzsymptomen mit einem teuren Medikament wird zu einer Kostenexplosion führen. Da sollte man zumindest sicher sein, dass es wirkt.

Investor-Info

Biogen
Die Wette läuft wieder


Nach den überraschenden News notiert die Aktie noch etwas unter dem Niveau vom März. Investoren preisen demzufolge eine Chance von 35 bis 50 Prozent ein, dass Aducanumab zugelassen wird, so Michael Yee von Jefferies. Sollte dies wirklich passieren, sehen andere Analysten den fairen Wert der Aktie bei 435 bis 470 Euro. Das Rückschlagspotenzial bei einer Ablehnung oder vertieften Zweifeln an den Daten ist entsprechend sehr hoch. Riskante Wette. Rücksetzer abwarten.

Empfehlung: Beobachten
Kursziel: 280,00 Euro
Stoppkurs: 193,00 Euro