Ein Interview vor Ort in Mainz? Abgelehnt. Viel zu riskant, die Mitarbeiter in Labor und Produktion müssen geschützt werden. Dieser Tage steht viel auf dem Spiel für Biontech. Wird der erste Corona- Impfstoff aus Deutschland kommen? Auf was es bei den Studienergebnissen ankommt und wie es weitergeht, erklärt Biontechs Finanzvorstand und Chief Operating Officer Sierk Pötting - per Videokonferenz.

€uro am Sonntag: Sie sind vor sechs Jahren von Novartis zu Biontech gekommen. Vom Großkonzern zu einem Start-up, was hat Sie daran gereizt?

Sierk Pötting: Nach meiner Promotion in theoretischer Physik war ich knapp drei Jahre lang Unternehmensberater bei McKinsey. Dabei habe ich gemerkt, dass es mir sehr viel Spaß macht, Strategien umzusetzen, und habe dann, wie es andere Berater auch kennen, zu einem Kunden gewechselt. Bei mir war das die Fusion von Hexal und Sandoz, die Generikasparte von Novartis. Bei Sandoz war ich zuletzt Finanzchef für das Amerika-Geschäft mit drei Milliarden Dollar Umsatz. Dann kam der Zeitpunkt, an dem ich gern wieder etwas anderes machen wollte, etwas Unternehmerisches.

Und warum fiel die Wahl auf Biontech?

Da kam vieles zusammen. Mein Physiker-Herz hat höhergeschlagen, als ich gesehen habe, was Biontech alles macht. Das war nicht nur innovative Medizin gegen Krebs, das waren auch Verfahrensprozesse, neuartige Produktions- und Logistikprozesse. Und das Unternehmen hatte schon eine gewisse Größe erreicht, war also kein ganz junges Start-up mehr.

Zu welchem Zeitpunkt hatten Sie persönlich das Gefühl, es könnte klappen mit dem Corona-Impfstoff?

Das Gefühl hatte ich bereits im Februar 2020. Unser Gründer und CEO Ugur Sahin hat schon sehr früh geahnt, dass eine Pandemie auf uns zukommen könnte. Er hat uns dann im Vorstand eine Art Stufenplan erläutert, wie er vorgehen möchte. Da ich Ugur schon sehr lange kenne, weiß ich: Wenn er etwas in die Hand nimmt, dann hat das Hand und Fuß. Im Rückblick muss ich gestehen, da war sehr viel Vertrauen dabei. Es gab in der Rückschau doch einige Stellen, an denen es auch in eine andere Richtung hätte laufen können, da es sich um eine klinische Entwicklung mit entsprechenden unvorhersehbaren Risiken handelt.

Die ganze Welt wartet gespannt auf die erste Zwischenanalyse, nach der man vielleicht sagen kann, ob der Impfstoff wirksam ist. Worauf kommt es da an?

Wir führen eine randomisierte, verblindete Studie durch, bei der eine Hälfte der Probanden den Impfstoff erhält, die andere Hälfte ein Placebo. Unsere Studie ist eine sogenannte eventbasierte Studie. Das heißt, wenn eine bestimmte Zahl an Corona-Infektionen aufgetreten ist, dann kontrolliert ein unabhängiges Gremium, wie viele davon in der Impfstoffgruppe sind und wie viele in der Gruppe mit dem Placebo. Je mehr sich im Placeboteil der Studie infiziert haben und je weniger im Impfstoffteil, umso mehr scheint der Impfstoff zu schützen. Dazu braucht man idealerweise ein akutes Infektionsgeschehen und sehr viele Probanden, um die Ergebnisse statistisch signifikant zu machen. Bei uns sind es rund 44.000 Teilnehmer. Diese erste Auswertung innerhalb der Phase-3-Studie kommt voraussichtlich Ende Oktober, Anfang November.

Zwei große Impfstoffstudien anderer Unternehmen wurden unterbrochen, weil es sogenannte Severe Adverse Events gab. Sind die Definitionen dieser Vorkommnisse überall gleich?

Das sind Standards, die im Detail abweichen können. Diese Definitionen sind in unseren Studienprotokollen öffentlich zugänglich. Solche Ereignisse werden aber auch von Behörden kontrolliert. So schlimm die beiden Fälle bei Astrazeneca und Johnson & Johnson sind, zeigen sie auch, dass das System mit seinen Kontrollmechanismen transparent funktioniert. Wenn ein solches Severe Adverse Event eintritt, wird die rote Fahne gehoben, und die Studie pausiert. Das Unternehmen und die Behörden sehen sich den Fall genau an, um zu verstehen, was genau passiert ist.

Bei Biontech ist noch nichts passiert?

Wir halten uns an unsere Transparenz- Standards. Wenn etwas passiert wäre, hätten wir das bekannt gemacht. Bei uns ist bisher kein Severe Adverse Event eingetreten.

Normalerweise dauert die Entwicklung von Impfstoffen sehr viel länger. Warum geht es jetzt so schnell?

Weil vieles parallel gemacht wurde. Zum Beispiel haben wir während der präklinischen Experimente schon Impfstoff für die klinische Studie produziert und das nicht nur für einen, sondern gleich für mehrere Produktkandidaten - mit dem Risiko, dass man die gar nicht verwendet. Man nimmt also keine Abkürzung, sondern macht das volle Programm, nur gleichzeitig.

Als Nachteil der mRNA-Wirkstoffe gelten die extrem niedrigen Lagertemperaturen. Wie ist das bei Ihrem Wirkstoff?

Wir sind nach derzeitigem Stand bei minus 70 Grad Celsius für die Langzeitlagerung und fünf Tagen Kühlschranklagerung. Wir erheben aktuell Stabilitätsdaten, die eine längere Lagerung bei Kühlschranktemperatur erlauben könnten.

Ist das für die Distribution ein Problem?

Eine durchgängige Minus-70-Grad-Infrastruktur ist tatsächlich nicht so leicht verfügbar wie eine Kühlkette mit Kühlschranktemperatur. Aber mit guter Planung und Vorbereitung kann man das aufbauen. Dasselbe gilt für die Impfstoffgefäße. Auch die lassen sich in ausreichender Stückzahl organisieren, selbst in der aktuellen außergewöhnlichen Situation.

Wie lange dauert es, eine Impfstoffdosis herzustellen?

Etwa vier Wochen. Für die eigentliche Herstellung brauchen wir etwa eine Woche, rund drei Wochen dauern die Tests zur Qualitätssicherung und Freigabe.

Wie viele kann die gerade übernommene Produktion in Marburg liefern?

Wir gehen davon aus, dass Marburg im ersten Halbjahr 2021 zunächst bis zu 250 Millionen Dosen produzieren wird. Bei voller Betriebsfähigkeit dann bis zu 60 Millionen Dosen pro Monat.

Wissen Sie schon, wie die ersten Auslieferungen vonstatten gehen sollen?

Wir sind darüber mit der Bundesregierung im Gespräch. Die ersten Dosen werden aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit der Regierung verteilt, die eine Priorisierung vornimmt. In die Priorisierung, wer zuerst was bekommt, mischen wir uns nicht ein. Jedes Land wird für sich eine eigene Prioritätenliste haben und die Verteilung auf die ein oder andere Weise lösen. Das wird in den nächsten Wochen konkreter werden.

Warum ist beim Corona-Impfstoff die Wahl auf Pfizer als Partner gefallen? Biontech hat ja auch zu anderen großen Pharmakonzernen Beziehungen.

Pfizer lag nahe, weil wir bereits 2018 eine Kooperation für einen Impfstoff gegen Grippe eingegangen waren. Daher waren unsere Teams schon aufeinander eingespielt und es herrschte großes gegenseitiges Vertrauen.

Johnson & Johnson hat angekündigt, dass sie während der Pandemie Impfstoff zum Selbstkostenpreis abgeben wollen. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Über Preise möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht spekulieren. Darüber kann man reden, wenn wir tatsächlich ein Produkt haben, das wir auf den Markt bringen können. Die Entwicklung eines Impfstoffs kostet zwischen einer und zwei Milliarden Dollar. Einen Teil übernimmt Pfizer, aber es bleiben für eine kleinere Biotechfirma wie uns noch eine Menge Kosten übrig. Wir haben viel in die Entwicklung der Plattform investiert und sind hohe Risiken eingegangen. Das wird sich irgendwie im Preis widerspiegeln müssen, zumal mögliche Einnahmen in unsere Krebsforschung re- investiert werden.

Eigentlich stehen bei Biontech Krebsmedikamente im Zentrum der Forschung. Was passiert aktuell mit diesen Projekten, können Sie die noch vorantreiben?

Die Projekte laufen alle noch, es gab einige wenige Covid-19-bedingte Verzögerungen, über die wir informiert haben. Wir verfolgen weiter die gesamte Pipeline und das Portfolio bewegt sich nach vorn.

Biontech entwickelt nicht nur Medikamente auf mRNA-Basis, sondern nutzt auch viele andere Technologien wie etwa Antikörper. Was ist die Strategie dahinter?

Das Verbindende bei all diesen Technologien ist die Immunologie, das Wissen darum, wie das Immunsystem funktioniert. Mit Ugur Sahin und Özlem Türeci haben wir zwei ausgewiesene Experten an Bord, die das Ganze seit 25 Jahren machen. Wir sehen uns nicht als Firma mit nur einer Technologie, weil es auch nicht nur den einen Krebs gibt. Jeder Krebs muss individuell behandelt werden, und dazu braucht es einen ganzen Werkzeugkasten. Diesen breiten Ansatz unseren frühen Investoren zu vermitteln, war nicht leicht. Aber es war für uns ein Ritterschlag, dass große Pharmakonzerne sich nach und nach in alle unsere Plattformen eingekauft haben. Bis dahin war es extrem wichtig, dass unsere frühen Investoren wie die MIG-Fonds und die Strüngmann-Familie einen langen Atem hatten. Mit klassischem Venture Capital hätte das wohl nicht funktioniert, weil da immer relativ kurzfristige Meilensteine erreicht werden müssen.

Was sind Ihre Erwartungen an den Aktienkurs für den Fall, dass Biontech zu den ersten Unternehmen zählt, die einen Impfstoff gegen Covid-19 auf dem Markt bringen?

An diesen Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen. Was wir sehen ist, dass es den Pharma-Aktien antizyklisch sehr gut geht. Sicherlich ist auch einiges von dem extremen Hype um die Covid- Aktien im Kurs. Es ist schwierig zu sagen, was eingepreist ist, was nicht. Wir müssen abwarten, was passiert.

Warum erwarten Analysten für das Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr 2021 einen starken Einbruch des Gewinns bei einem leichteren Rückgang des Umsatzes?

Wir sind ein reiferes Start-up, das noch Verluste macht. Die Umsätze, die wir aktuell ausweisen, sind nicht rein operativ, sondern stammen hauptsächlich aus Kollaborationen, Meilensteinzahlungen, Vorabzahlungen. Im Fall der Zulassung eines Impfstoffs könnte es in der Tat sein, dass wir positive Umsätze erwirtschaften. Warum die Analysten den von Ihnen erwähnten Rückgang für 2022 prognostizieren, müsste man sich im Einzelfall ansehen. Generell wichtig ist die Frage, was passiert nach der Corona-Pandemie? Ist das ein einmaliges Ereignis oder wird das Virus bei uns bleiben, und wir brauchen regelmäßige Impfauffrischungen. Diese Fragen gehen in die mittelfristigen Geschäftsprognosen ein, die aber, Stand heute, sehr, sehr spekulativ sind. Was man ziemlich sicher sagen kann, ist, dass unsere Onkologie-Pipeline vorankommt, die dann auch für Umsätze und Gewinne sorgen könnte.

Bleibt Mainz der Hauptsitz von Biontech?

Von unseren rund 1.500 Mitarbeitern arbeiten mehr als 1.000 am Standort in Mainz. Hier ist das Forschungshauptquartier, die Verwaltung, auch ein Teil der Produktion. Wir bauen auch gerade das nächste Forschungszentrum mit Platz für die Produktion der individualisierten Medizin. Hier in Mainz spielt die Musik.
 


Vita:

Kein typischer Finanzmanager

Sierk Pötting hat an der Münchner Ludwig-Maximilians- Universität in theoretischer Physik promoviert. Nach einigen Jahren als Unternehmensberater bei McKinsey & Company wechselte er zu Sandoz, der Generikasparte von Novartis. Dort war er CFO für Nordamerika. Der 47-Jährige kam 2014 als Finanzchef und COO zu Biontech.
 


Die Aktie:

Rasanter Höhenflug

In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Aktienkurs von Biontech verfünffacht. Sollte die bevorstehende Interimsanalyse positiv ausfallen, ist sicher noch ein Aufschlag drin. Gleichzeitig steigt natürlich auch das Risiko für eine Korrektur, wenn das Ergebnis negativ oder nicht ganz eindeutig ist. Und Vorsicht: Professionelle Investoren steigen oft aus, wenn Biotechfirmen eine Zulassung in der Tasche haben.