Wie im realen Leben gilt auch am Aktienmarkt: Einem Bären sollte man nicht zu nahe kommen. Wie schmerzhaft eine Begegnung sein kann, erleben Börsianer in diesen Tagen. Nach dem DAX ist jetzt auch der amerikanische S & P 500, der wichtigste Aktienindex der Welt, in den sogenannten Bärenmarkt abgetaucht.

Streng genommen beschreibt der Beginn eines Bärenmarkts lediglich die jüngste Kursentwicklung, ein Minus von mehr als 20 Prozent seit dem letzten Höchststand. Das ist aber noch nicht alles: Historische Daten zeigen, dass der Eintritt in den Bärenmarkt oft Teil einer deutlich schärferen Korrektur ist.

Das große Angstthema an den Aktienmärkten bleibt die Inflation: In den USA sind die Verbraucherpreise im Mai auf 8,6 Prozent gestiegen und damit so stark wie seit Dezember 1981 nicht mehr. In Deutschland lag die Inflation zuletzt bei 7,9 Prozent, so hoch wie seit fast 50 Jahren nicht. Extrem steigende Preise schwächen die Kaufkraft der Konsumenten und damit die Gesamtwirtschaft. Zugleich setzen sie die Notenbanken unter Druck, die Zinsen anzuheben, was das Risiko einer Rezession weiter vergrößert (die Fed-Sitzung vom Mittwoch war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet). Als "toxischen Cocktail" beschreiben die Analysten der Rabobank die Situation.

Die Nachrichtenlage dürfte noch für längere Zeit prekär bleiben: Im Krieg um die Ukraine zeichnet sich keine Entspannung ab, viele Rohstoffe bleiben teuer. Covid-Lockdowns in China schwächen die Weltwirtschaft und strapazieren die globalen Lieferketten. Und im Herbst könnte die Pandemie auch in der westlichen Welt wieder zu einem großen Thema werden.

Schreckgespenst Stagflation

Ob eine Rezession in der Eurozone verhindert werden kann, werde eine knappe Entscheidung, kalkuliert die Schweizer Bank UBS. Bundesfinanzminister Christian Lindner warnt vor hoher Inflation bei niedrigem Wirtschaftswachstum: "Stagflation ist ein mögliches Szenario." Ein wichtiger Wegweiser für die deutsche Wirtschaft werden am 24. Juni die neuesten Zahlen zum Geschäftsklima des Ifo-Instituts. Im Mai hatte sich die Stimmung in den Unternehmen leicht verbessert.

Besonders gelitten haben seit den Höchstständen der Aktienmärkte zum Jahresauftakt Unternehmen, bei denen Anleger auf starkes Wachstum in der Zukunft setzen, also vor allem aus dem Technologiesektor. Größter Verlierer mit einem Minus von mehr als 70 Prozent bis zum vergangenen Dienstag ist Netflix. Selbst Konsumgüterwerte, die eigentlich als defensive Investments in Krisenzeiten Schutz bieten, sind zuletzt unter Druck geraten, weil Anleger dort mit deutlich steigenden Kosten durch die Rohstoffpreise rechnen.

In den kommenden Wochen werden sich die Blicke der Börsianer wieder stärker auf die Unternehmen richten. Die Quartalsberichte sind meist ein Muntermacher, weil die Masse oft die Analystenerwartungen übertrifft. Ein Warnschuss kommt ausgerechnet von Microsoft, einem der Stars des vergangenen Bullenmarkts. Sorgen bereitet dem Softwarekonzern der starke Dollar. Da Microsoft in US-Währung rechnet, kommt vom Auslandsgeschäft bei steigendem Dollar-Kurs weniger in der Bilanz an. Auch andere amerikanischen Unternehmen sind dieser Dynamik ausgesetzt. Derzeit gehen Analysten davon aus, dass die Gewinne der großen US-Unternehmen im zweiten Quartal um 5,4 Prozent gestiegen sind. Seit April ist die Prognose um 1,4 Prozentpunkte gesunken, Analysten sind also vorsichtiger geworden, wie die Daten des Finanzdienstes Refinitiv zeigen.

Das Wachstum geht vor allem auf das Konto des Energiesektors, der seinen Gewinn im Quartal wohl mehr als verdreifacht hat. Bei allen anderen Branchen zusammen dürften die Gewinn dagegen um etwas mehr als zwei Prozent gesunken sein.

Deutlich zu optimistisch

Auch in Deutschland müssen sich Anleger auf schlechte Meldungen einstellen: "Das Konjunkturumfeld bleibt mit hohen Kosten für Rohstoffe, Energie, Logistik und Löhne herausfordernd, weshalb es vermehrt Gewinnwarnungen geben dürfte", kalkuliert Andreas Hürkamp von der Commerzbank. Die aktuelle Prognose der Analysten, dass die DAX-Unternehmensgewinne im laufenden Jahr um fünf Prozent steigen, dürfte sich "als deutlich zu optimistisch" erweisen.

Wie geht es jetzt weiter? Durch die Kursverluste sind die Indizes billiger geworden. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des DAX schrumpfte seit Jahresbeginn von 14 auf elf, beim S & P 500 von knapp 22 auf 16. Beide Indizes liegen damit leicht unter dem Schnitt der vergangenen zehn Jahre.

In der jüngsten Umfrage des Finanzdienstes Bloomberg taxierten amerikanische Banken und Investmenthäuser im Mai das Kursziel für den S & P 500 zum Ende des Jahres im Schnitt auf 4.743 Punkte. Das würde auf eine kräftige Rally im zweiten Halbjahr hinauslaufen, aber wohl auch eine deutliche Verbesserung der Rahmenbedingungen voraussetzen, insbesondere ein Abflauen der extremen Inflation.

Bevor es besser wird, wird es zunächst schlechter, glaubt die Investmentbank Morgan Stanley. Das Bewertungsniveau amerikanischer Aktien reflektiere noch immer nicht das steigende Risiko für das Wachstum, argumentiert Stratege Michael Wilson, der Abwärtspotenzial für den S & P 500 bis 3.400 Punkte sieht.

Argumente der Bullen

Was sagt die Börsenhistorie? Seit Ende des Zweiten Weltkriegs stürzte der S & P 500 laut Daten von Yardeni Research zwölf Mal in einen Bärenmarkt. Im Schnitt verlor der Index dabei ein Drittel seines Wertes. Die Spanne der Verluste ist dabei allerdings sehr groß - zwischen 21 und 57 Prozent. Anfang der 1980er-Jahre, als die Inflation ähnliche Dimensionen erreichte wie jetzt, fiel der große amerikanische Aktienindex in der Spitze um 27 Prozent. Sollte sich dieses Szenario jetzt wiederholen, wäre der Boden in Sichtweite.

Zu den Optimisten in Deutschland gehört die DZ Bank: Das Umfeld bleibe für Anleger schwierig, aber viele schlechte Nachrichten seien bereits in den Kursen eingepreist. "Kommt es zu einer Wende bei einem der aktuellen Belastungsfaktoren, ist mit einer deutlichen Erholung der Kurse zu rechnen."

INVESTOR-INFO

Chevron

Schutz plus Dividende

Der Energiekonzern aus Kalifornien gehört zu den Profiteuren der Ölpreisrally. Das macht die Aktie von Chevron zu einer Art Depotabsicherung mit gleichzeitiger Dividendenzahlung. Im Vergleich zum nach Umsatz größeren Rivalen Exxon Mobil ist Chevron stark im hochprofitablen Geschäft mit Flüssiggas. Auch Warren Buffett hat zuletzt zugegriffen. Analysten erwarten, dass die Dividende in den kommenden Jahren um durchschnittlich rund fünf Prozent wächst.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 195,00 Euro
Stoppkurs: 138,00 Euro

Deutsche Telekom

Dollar-Gewinner

Der ehemalige Staatskonzern erzielt dank seiner stark wachsenden Mobilfunktochter inzwischen mehr als die Hälfte seines Umsatzes in den USA. Dadurch ist die Deutsche Telekom ein Profiteur des starken Dollars. Analysten sehen in dem Konglomerat zudem versteckte Werte, die durch den Verkauf oder eine Ausgliederung von Konzernteilen gehoben werden können. Die Dividende dürfte in den kommenden Jahren leicht steigen.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 22,00 Euro
Stoppkurs: 15,00 Euro

Mercedes-Benz Group

Billiger Luxus

Wenn die Stimmung an den Finanzmärkten schlecht ist, lohnt sich ein Blick auf die Aktien guter Unternehmen. Eines davon ist Mercedes-Benz. Der Autokonzern hat in der gehobenen Preisklasse eine starke Position. Die Aktie ist dagegen im Billigbereich zu finden. Ein klar einstelliges KGV und eine Dividendenrendite deutlich über DAX-Niveau machen Mercedes-Benz zu einem guten Langfristinvestment.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 75,00 Euro
Stoppkurs: 46,00 Euro