Vertagt: Der auf Herbst verschobene EU-Austritt der Briten lässt die Aktienmärkte kalt. Der zuvor als "Katastrophe" bezeichnete "harte Brexit" ist für die kommenden sechs Monate definitiv vom Tisch, doch von Erleichterung an den europäischen Börsen keine Spur. Die Leitindizes Europas scheinen von dem endlosem Zank der Politiker ebenso erschöpft wie die Brexit-Verhandler selbst und lassen jeglichen Schwung vermissen: Der britische FTSE notierte kaum verändert, Euro Stoxx 50 und DAX gewannen jeweils nur rund ein halbes Prozent. Der Deutsche Aktienindex bleibt damit auf Distanz zur Marke von 12.000 Punkten.

"Es geht weiter wie gehabt, es gibt keine Entscheidung, sondern es bleibt eine Irrfahrt der britischen Politik, auf die sich die Finanzmärkte nicht einstellen können", kommentierte Jochen Stanzl, Chefanalyst beim Handelshaus CMC Markets.

Brexit wird zur Farce

Die Europäische Union (EU) und Großbritannien hatten sich auf eine Verschiebung des Brexit-Termins bis zum 31. Oktober geeinigt. Das Land kann aber früher aus der EU austreten, falls der umstrittene Brexit-Vertrag das britische Parlament eher passiert.

"Das Thema entwickelt sich langsam zur Farce", sagt Andreas Lipkow, Marktexperte der Comdirect, und weist darauf hin, dass die Briten nun höchstwahrscheinlich an der Europawahl teilnehmen und dann nur wenige Monate später aus der EU austreten werden. "Da nun aber offenkundig geworden ist, dass alle Beteiligten auf jeden Fall einen No-Deal-Brexit verhindern wollen, hat das Thema für die Aktienmärkte über Nacht an Brisanz verloren", so Lipkow.

Lediglich die Aktien der Fluggesellschaften profitierten von der Fristverlängerung: Die Lufthansa war mit einem Plus von bis zu 2,6 Prozent zeitweilig Spitzenreiter im DAX.

Die Titel von Easyjet, Ryanair, der British-Airways-Mutter IAG und Air France kletterten um bis zu fünf Prozent. Ein harter Brexit hätte Experten zufolge weitreichende Folgen für den Airline-Sektor. Britischen Fluggesellschaften droht der Verlust sämtlicher Flugrechte innerhalb der Staatengemeinschaft, falls es keinen Ersatz für das EU-Regelwerk gibt.

Der Chaos-Brexit ist nun also in letzter Minute abgewendet: Die unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und Millionen Bürger sind damit erst einmal vom Tisch. Zumindest fürs Erste gibt es noch keine Zollkontrollen an der irischen Grenze und keine Megastaus bei Dover oder Calais am Ärmelkanal. Und keine Engpässe in Großbritannien bei Arzneien, frischem Obst, Gemüse oder Klopapier. Kein Abriss von Lieferketten in der Industrie, keine Milliardenlasten auch für die deutsche Wirtschaft und die Steuerzahler. Dieses Schreckensszenario ist nun zumindest vertagt.

"Insgesamt geht der Markt mit dem Thema Brexit wenig emotional um", sagte Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie der DekaBank. Abgesehen von einer zeitlich begrenzten Stimmungsein­trübung sollten die Aktienmärkte selbst durch einen nun noch unwahrscheinlicher gewordenen ungeregelten Brexit nicht aus der Bahn geworfen werden.

Das Chaos vertagt

Einige Experten warnen allerdings davor, dass der Brexit zu einer unendlichen Geschichte verkommen könnte: Mit einem typisch europäischen Politkompromiss bis zum 31. Oktober spiele man wie üblich auf Zeit, sagte Robert Halver, Markt­experte der Baader Bank, und spricht angesichts des verlängerten Verbleibs von einer "Brextension". Auch Hubertus Väth, Geschäftsführer der Finanzplatz­initiative Frankfurt Main Finance, moniert die anhaltende Unsicherheit: "Diese Entscheidung bringt weder Klarheit über den weiteren Fortgang noch über den Ausgang. Die Verschiebung ist auch nicht lang genug, um als faktischer Verbleib gewertet zu werden. Das Brexittainment bleibt uns erhalten."