Die Bundesregierung verstärkt nach eigenen Angaben die Bemühungen zur Rettung von Deutschen sowie Ortskräften und anderen Flüchtlingen aus Afghanistan. Die Bundeswehr will nun auch jenseits des Kabuler Flughafengeländes Hilfesuchende einsammeln. Dafür sollten zwei leichte Hubschrauber bis Samstag nach Afghanistan gebracht werden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Freitag in Berlin. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, kündigte an, die Helikopter sollten in Kabul und Umgebung eingesetzt werden. Die Nato kündigte an, ihre Bemühungen bei den Evakuierungen zu verdoppeln. Das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen warnte aber, Afghanen könnten nur unter großen Schwierigkeiten in Ausland fliehen. Die Taliban riefen Imane auf dazu auf, bei den Freitagsgebeten die Gläubigen aufzufordern, im Land zu bleiben.

Die Bundeswehr hat bisher nach Angaben des Verteidigungsministeriums 1649 Menschen aus 38 Nationen aus Kabul gebracht. Ein Regierungssprecher sagte, ein Deutscher sei auf dem Weg zum Flughafen angeschossen worden, sei aber außer Lebensgefahr und werde rasch ausgeflogen. Die Deutsche Welle (DW) berichtete, die Taliban hätten einen Familienangehörigen eines DW-Mitarbeiters erschossen und mehrere andere verletzt. Die Islamisten seien von Haus zu Haus auf der Suche nach dem Journalisten gegangen, der sich bereits in Deutschland aufhält.

Ein Nato-Vertreter verwies gegenüber Reuters auf Tausende Menschen, die vor dem Flughafen auf Einlass hofften. Seit der Machtübernahme der Taliban vor einigen Tagen seien über 18.000 Menschen ausgeflogen worden. Die britische Zeitung "The Times" berichtete, der letzte britische Evakuierungsflug solle Kabul schon in fünf Tagen verlassen. Die ehemaligen Ortskräfte internationaler Organisationen fürchten um ihr und ihrer Familien Leben, sollten sie in die Hände der Taliban fallen. Wie sie zum Flughafen gelangen könnten, ist aber unklar. Die Taliban haben viele Kontrollpunkte in der Stadt und am Airport eingerichtet. Das Auswärtige Amt teilte mit, 100 Millionen Euro für internationale Hilfsorganisation würden als Soforthilfe für Geflüchtete zur Verfügung gestellt.

Am Donnerstag war es nach Augenzeugenberichten in mehreren Orten zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Demonstranten gekommen, bei denen in Asadabad mehrere Menschen getötet worden sein sollen. Die Kundgebungsteilnehmer bekannten sich demonstrativ zum Staat Afghanistan, die Taliban wollen dagegen ein Emirat nach fundamental-islamischen Regeln errichten. Nach Angaben des von der UN unterstützen norwegischen Institutes RHIPTO für globale Untersuchungen stellten die Islamisten schwarze Listen mit Namen von Afghanen zusammen, die mit der gestürzten Regierung oder mit den internationalen Truppen zusammengearbeitet haben. Die Taliban intensivierten die Jagd auf Kollaborateure, hieß es in einem von Reuters eingesehenen RHIPTO-Bericht.

TALIBAN LOBEN HALTUNG CHINAS


Die Taliban setzten unterdessen ihre Bemühungen um internationale Anerkennung fort. China habe eine konstruktive Rolle bei der Förderung von Frieden gespielt, sagte Taliban-Sprecher Suhail Shaheen in chinesischen Staatsmedien. "Ich denke, es kann eine sehr wichtige Rolle beim Wiederaufbau, der Erneuerung und der Sanierung Afghanistans spielen." In Berlin rief der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, dazu auf, der Westen müsse sich mit anderen Ländern abstimmen und klare Bedingungen für jede Form der Zusammenarbeit mit den Taliban stellen. Ein Druckmittel könnten dabei die umfangreichen Finanzhilfen für Afghanistan sein.

In Deutschland diskutierten Politiker weiter über gegenseitige Schuldzuweisungen. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wies Vorwürfe an Außenminister Heiko Maas wegen der Visa-Vergabe zurück. "Der Außenminister ist für diesen Vorhalt die falsche Adresse. Aber ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen", sagt er der "Rheinischen Post". Maas seinerseits kritisierte den Bundesnachrichtendienst. "Der BND hat offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen, so wie andere Dienste auch", sagte er dem "Spiegel". Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagte, die Problematik der Evakuierung von Ortskräften sei seit Monaten bekannt gewesen. Die Bundesregierung hätte dies frühzeitig organisieren müssen. Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte für Mittwoch eine Regierungserklärung an.

Auch in den USA steht die Regierung unter Druck. Mehr als 20 US-Diplomaten sollen bereits im Juli eine interne Nachricht an US-Außenminister Antony Blinken verschickt haben, in der sie vor einem möglichen Fall Kabuls warnten. Das berichtete das "Wall Street Journal". Nach offiziellen Angaben westlicher Regierungen kam der Fall Kabuls vor knapp einer Woche vollkommen überraschend. US-Präsident Joe Biden sollte sich am Freitag erneut zu den Vorgängen in Afghanistan äußern.

rtr