Die Botschaft von Li Keqiang war eindeutig. In einer Grundsatzrede im Rahmen des Nationalen Volkskongresses Anfang März kündigte Chinas Premierminister den zukünftigen Wachstumskurs der Regierung an: "Wir bauen ein digitales China auf", sagte Li Keqiang und hob besonders die vielen Technologie- und Internetfirmen hervor, die in den vergangenen Jahren vor Wachstum geradezu gestrotzt haben.

Zuvor hatte bereits das China Internet Network Information Center (CNNIC) einen beeindruckenden Zahlenkranz geliefert, wie weit die Digitalisierung im Reich der Mitte schon vorangeschritten ist. 772 Millionen Menschen waren Ende 2017 mit ihren Computern, Tablets oder Smartphones online. Damit surfen in China mehr Menschen im Internet als in den USA und der Europäischen Union zusammen. Während Chinas Internet in der internationalen Betrachtung meist als Synonym für Cyberspionage und Zensur steht, hat sich die Branche zu einem völlig eigenständigen Online-Ökosystem entwickelt.

Das Fundament bildet die wohl dynamischste Start-up-Szene dieses Planeten, die mit einem regelrechten Tsunami an Wagniskapital von Venture-Capital-Gesellschaften und staatlichen Förderprogrammen wie Internet Plus, Made in China 2025 und der National IT Development Strategy unterstützt wird. Knapp 80 Einhörner hat allein der chinesische Internetsektor in den vergangenen Jahren hervorgebracht. Mehr als ein Drittel von ihnen hat den Sitz in Peking, ein knappes Viertel in Shanghai.

Als Einhörner werden private Unternehmen bezeichnet, die in vorbörslichen Finanzierungsrunden bereits eine Bewertung von mindestens einer Milliarde US-Dollar erreicht haben. Über 100 der Internetfirmen sind inzwischen an der Börse notiert, ihr Börsenwert erreichte in diesem Jahr zusammengenommen neun Billionen Yuan, umgerechnet etwa 1,2 Billionen Euro.

Angeführt wird die Branche von einer Handvoll chinesischer Giganten wie Alibaba. Vergleichbar mit dem US-Konkurrenten Amazon stellt Alibaba Onlinemarktplätze zur Verfügung, über die Händler und Kunden zusammenfinden. Der Konzern verdient dabei an Werbung und Provisionen: ein Milliardengeschäft, ist das Reich der Mitte doch heute schon der mit Abstand wichtigste und größte Internethandelsplatz der Welt.

Im vergangenen Jahr lagen die Geschäfte, die in China über das Web getätigt wurden, bei 750 Milliarden US-Dollar und damit knapp doppelt so hoch wie jene in den USA. Aber nicht nur im Hinblick auf die absolute Marktgröße ist China inzwischen das Maß der Dinge, sondern auch bei der Betrachtung der Wachstumsraten. In den vergangenen zehn Jahren stieg der E-Commerce-Umsatz dort im Durchschnitt jährlich um 76 Prozent. Allein am "Singles’ Day" im November 2017, dem E-Commerce-Event des Jahres, wurden über die Alibaba-Plattform innerhalb von 24 Stunden Waren im Wert von 25,3 Milliarden US-Dollar verkauft.

Alibaba allerdings nur auf den Onlinehandel zu beschränken wäre viel zu kurz gegriffen. Über seine Beteiligung am Zahlungsabwickler Ant Financial, dessen Börsengang noch im Laufe dieses Jahres über die Bühne gehen könnte, positioniert sich der Konzern im gesamten asiatischen Fintechsektor. Im Bereich der Cloud-Services ist man mit fast einer Million Kunden die unangefochtene Nummer 1 auf dem Heimatmarkt.

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Branchenführer mischen überall mit



Auch die beiden anderen Internet-Platzhirsche haben ihre Geschäftsmodelle in den vergangenen Jahren ausgeweitet. Die größte Suchmaschine des Landes, Baidu, investiert mit aller Macht in künstliche Intelligenz und autonomes Fahren - zwei Bereiche, in denen man gigantische Perspektiven sieht. In den vergangenen Jahren hat der Konzern mit seiner Apollo-Plattform das größte offene Ökosystem für selbstfahrende Autos geschaffen, dem sich inzwischen mehr als 90 Partnerfirmen weltweit angeschlossen haben.

Tencent hat mit dem Messenger-Dienst WeChat, den heute weit mehr als 900 Millionen Menschen nutzen, eine Nutzerbasis geschaffen, die man nun vor allem mit Entertainment-Angeboten wie der Gaming-Plattform WeGame monetarisieren möchte.

Auch wenn die drei dominierenden Internetgiganten einer Auswertung der US-Investmentbank Morgan Stanley zufolge die Hälfte der Gesamtumsätze der 18 wichtigsten chinesischen Internetunternehmen auf sich vereinen, bleibt das Wachstumspotenzial für die übrigen Marktplayer noch immer riesig. Zwar hat sich die Zahl der Onlinenutzer in der Volksrepublik seit 2005 versiebenfacht, dennoch sind nur wenig mehr als die Hälfte aller Chinesen heute schon im Web.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil der Internetnutzer bei rund 55 Prozent und damit zwar über dem asiatischen und auch dem globalen Durchschnittswert. Gegenüber den Industrienationen wie den USA oder Deutschland, deren Quoten bei 75 beziehungsweise 71 Prozent liegen, hat China aber noch immer großen Nachholbedarf. BÖRSE ONLINE hat sich vier Titel aus der zweiten Reihe genauer angesehen, die vom Wachstumspotenzial des chinesischen Internets überdurchschnittlich profitieren.

Auf Seite 3: Vier Titel mit Wachstumspotenzial





Momo-Aktie: Glücksgefühle nach Quartalszahlen



Mit der Übernahme der Dating-App Tantan hat Momo im Februar dieses Jahres einen echten Coup gelandet. Fünf Milliarden Matches, wie die erfolgreiche Zusammenführung zweier User genannt wird, hat das chinesische Tinder bislang bereits gezählt. Von den 70 Millionen registrierten Mitgliedern sind sieben Millionen täglich und satte 20 Millionen mindestens einmal im Monat aktiv.

Damit zählt Tantan heute zu den beliebtesten Dating-Apps der jungen Chinesen und sorgt auch bei Momo für Glücksgefühle: Die Monetarisierung der Plattform läuft schneller an als gedacht. Umsatz und Gewinn im ersten Quartal fielen deshalb besser aus als erwartet, die Schätzungen für das Gesamtjahr hat die Gesellschaft angehoben. Unsere "Aktie der Woche" aus BÖRSE ONLINE 14/2018 klettert derzeit von einem Rekordhoch zum nächsten.

Mittlerweile werden auch die Analystenhäuser mutiger: Die Schweizer Großbank UBS hat das Kursziel für die Aktie um fast 50 Prozent von 41 auf 60 US-Dollar angehoben und sieht im besten Fall sogar Potenzial bis 70 US-Dollar. Morgan Stanley hat seine Zielmarke von 53 auf 64 US-Dollar nach oben gesetzt.



Sogou-Aktie: Es kann wieder losgehen



Etwas holprig verlief der Börsenstart Ende des vergangenen Jahres für Sogou. Verkäufe von Investoren aus früheren Finanzierungsrunden drückten den Aktienkurs schnell unter das Ausgabeniveau von 13 US-Dollar, obwohl das IPO im Vorfeld massiv überzeichnet war. Sogou ist nicht nur die zweitgrößte chinesische Internetsuchmaschine nach Baidu, sondern nach den Worten der US-Bank JP Morgan auch "die am schnellsten wachsende Suchmaschine der Welt". Auch Internetriese Tencent setzt in seinem QQ-Browser auf Sogou Search als bevorzugte Suchmaschine.

Verdiente die Gesellschaft im vergangenen Jahr noch 82 Millionen US-Dollar, sollen es im kommenden Jahr schon 192 Millionen Dollar sein. Der Umsatz soll sich im gleichen Zeitraum von 908 Millionen auf 1,7 Milliarden Dollar fast verdoppeln. Mit den vorgelegten Zahlen zum ersten Quartal überraschte Sogou vor allem auf der Umsatzebene positiv und schickte damit auch die Aktie auf Erholungskurs. Inzwischen hat der Titel sein ursprüngliches IPO-Niveau wieder erreicht. Die eigentliche Börsenstory könnte damit nun erst so richtig beginnen.







Weibo-Aktie: Liebling der Werbeindustrie



Die Social-Media-Plattform Weibo ist im ersten Quartal noch stärker gewachsen als Alibaba oder Tencent. Das chinesische Twitter-Pendant konnte bei einem Umsatzanstieg um 76 Prozent auf 350 Millionen US-Dollar seinen Gewinn auf 99,1 Millionen Dollar mehr als verdoppeln. Dabei profitiert das Unternehmen von steigenden Budgets der Werbeindustrie, die im Rahmen ihrer Marketingstrategien immer häufiger auf Videoinhalte oder Newsfeeds zurückgreifen.

Mit zunehmenden Nutzerzahlen wird Weibo deshalb immer attraktiver. In den ersten drei Monaten dieses Jahres war die Zahl der täglich aktiven Nutzer um 30 Millionen auf 184 Millionen nach oben gesprungen. Entsprechend legten die Erlöse im Bereich Advertising & Marketing um 79 Prozent auf 302,9 Millionen Dollar zu.

Der Verweis des Managements auf die zunehmende Konkurrenz durch neue Apps hat den Höhenflug der Aktie in den vergangenen Wochen ein wenig ausgebremst. Für Anleger bietet sich damit eine Nachzüglerchance. Die Kursziele der führenden Analystenhäuser liegen derzeit vielfach zwischen 140 und 160 Dollar. Wir heben Kursziel und Stoppkurs an.



YY-Aktie: Social Media der nächsten Generation



Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde YY den Trend zum mobilen Internet verpassen. Doch spätestens seit der Rückkehr von Gründer David Xueling Li auf den Chefsessel im Frühjahr 2017 hat die Plattform den Strategieschwenk zu mobilen Inhalten geschafft und wartet seither regelmäßig mit neuen und innovativen Features auf. Mit Livestreaming- und Gaming-Angeboten sowie eingebetteten Social-Media-Features spricht das Unternehmen vor allem junge Chinesen mit einem vergleichsweise schmalen Budget an. Im Jahresvergleich sind die Nutzerzahlen um 24 Prozent auf 77,6 Millionen gestiegen, Umsatz und Gewinn entwickelten sich im zurückliegenden Quartal prächtig.

Nun streckt YY seine Fühler auch international aus. Mit einem 272-Millionen-Dollar-Investment ist man jüngst zum größten Aktionär der Livestreaming- und Videoplattform Bigo aufgestiegen, die bei Erlösen von 275 Millionen Dollar im vergangenen Jahr die Gewinnschwelle erreicht hatte. Angesichts eines mit zuletzt zwei Milliarden Dollar prall gefüllten Bankkontos dürfte das nicht die letzte strategische Beteiligung gewesen sein.



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Auf einen Blick: China