Wenn eine Maschine heiß gelaufen ist, kann man als Notfallmaßnahme einen Eimer Wasser darüberschütten. Angesichts des weltweiten Wettlaufs um einen Corona-Impfstoff mit täglich neuen Daten, Milliardendeals und handfestem Nationalismus tat WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus am Montag genau das: "Es gibt momentan kein Wundermittel gegen Covid-19 - und es könnte sein, dass es niemals eins gibt", erklärte der Gesundheitsexperte.

Niemals einen Impfstoff? Möglich ist das schon. Doch dass aktuell mehr als 160 Kandidaten in der Entwicklung sind, sechs davon bereits in der finalen dritten Testphase, gibt durchaus Grund für vorsichtigen Optimismus. Das weiß auch der Mann an der Spitze der Weltgesundheitsorganisation. Sein mahnender Kommentar ist wegen der steigenden Infektionszahlen, spürbarer Nachlässigkeit vieler Europäer und der zunehmenden Politisierung des Impf- stoffrennens dennoch angebracht.

Auch Anleger tun gut daran, einen Gang zurückzuschalten. Denn die Impfstoffrally hat so manchen Aktienkurs in luftige Höhen befördert. Die Erwartungen sind riesig, der Augenblick der Wahrheit - ob die am weitesten fortgeschrittenen Produktkandidaten wirksam sind - steht womöglich schon im Herbst bevor. Zusammen mit den zuletzt durchgesickerten Informationen zu möglichen Impfstoffpreisen könnte das Investoren zunehmend nervös machen und für heftige Kursrücksetzer sorgen.

Zeit für eine Analyse: Was wissen wir über die Impfstoffe, was nicht? Bei welchen Firmen lohnt noch ein Investment, bei wem nehmen Anleger lieber Gewinne mit? Denn so viel ist klar: Die Dynamik des Wettlaufs hat sich in den vergangenen Tagen und Wochen deutlich verändert.

Da wären zunächst die bisher veröffentlichten Studiendaten sowie Ergebnisse sogenannter Challenge-Experimente an Affen, die nach Impfung vorsätzlich mit dem Virus infiziert wurden. Die gute Nachricht: Keiner der Impfstoffkandidaten, für die solche Daten bereits vorliegen - das wären die Produkte von Moderna, Biontech/Pfizer, Astrazeneca/Uni Oxford, Novavax sowie Cansino, Sinopharm und Sinovac -, hat bisher versagt.

Alle führten bei freiwilligen Probanden zur Bildung von neutralisierenden Antikörpern, einige Firmen demonstrierten außerdem eine sogenannte T-Zell-Antwort, die eine Aktivierung eines anderen Teils des Immunsystems anzeigt. Die Challenge-Versuche deuteten auf einen guten, jedoch nicht immer 100-prozentigen Schutz hin.

Niederlage für Moderna

Die schlechte Nachricht: Ob das für eine Schutzwirkung beim Menschen ausreicht, wie vollständig sie sein wird oder wie lange sie anhält, weiß man noch nicht. Und: Aufgrund verschiedener Test- und Messmethoden sind die Studienergebnisse untereinander nicht vergleichbar. Es lässt sich also bisher nicht ausmachen, welcher Impfstoff die besten Chancen hat. Umgekehrt kann man aber sagen, dass Moderna, anderen zunächst in puncto Geschwindigkeit überlegen, mit Astrazeneca und dem Team Biontech/Pfizer mindestens ebenbürtige Konkurrenz bekommen hat.

Unschöne Zwischentöne lieferte auch die Niederlage Modernas in einem Patentstreit mit der Firma Arbutus. Dabei ging es um die Formulierung, die nötig ist, um mRNA-Impfstoffe stabil in den Körper einzuschleusen. Sowohl Moder- na als auch Biontech und Curevac nutzen Technologie von Arbutus. Sie sind über eine unübersichtliche Verflechtung von Firmen und Lizenzen mit Arbutus und deren Partner Acuitas und Genevant verbunden.

Moderna behauptet nun, die Technologie weiterentwickelt zu haben, sodass sie nicht mehr unter die Arbutus-Patente falle. Wenn dem so wäre, hätte die Firma den Patentstreit mit Arbutus jedoch gar nicht selbst anzetteln müssen. Gut möglich also, dass Moderna den Rechteinhabern einen Teil zukünftiger Umsätze abtreten muss. Biontech und Curevac scheinen indes gültige Nutzungsvereinbarungen mit Genevant beziehungsweise Acuitas zu haben.

Raum für Enttäuschungen birgt auch der mögliche Preis, den Moderna im Erfolgsfall für den Impfstoff einfordern kann. CEO Stéphane Bancel hat mehrfach seine Gewinnabsicht betont, während etwa Johnson & Johnson und Astrazeneca zumindest bis zum Ende der Pandemie die Abgabe zum Selbstkostenpreis versprochen haben. Der soll bei Astrazeneca um 2,50 Euro liegen, während Moderna insgesamt 64 bis 74 Dollar für die zwei nötigen Injektionen haben will.

Das wird Bancel nur schwer durchsetzen können. Denn Biontechs Partner Pfizer hat mit 19,50 Dollar pro Dosis, also insgesamt 39 Dollar, einen Maßstab gesetzt. Diesen Preis zahlt die US-Regierung für 100 Millionen Dosen, und laut Pfizer-Boss Albert Bourla wird kein Industrieland für diese Menge günstiger wegkommen. Im Gegensatz zu Moderna hat Pfizer aber keine öffentlichen Gelder für die Entwicklung verwendet. Auf Moderna kann die US-Regierung dagegen erheblichen Druck ausüben, da sie der Firma bei der Covid-Vakzine bisher mit fast einer Milliarde Dollar unter die Arme gegriffen hat.

Spezialisten rollen das Feld auf

Die kommenden Wochen werden also zweifellos spannend. Klar ist: Niemand sollte Moderna aufgrund der beschriebenen Faktoren komplett abschreiben. Genauso falsch wäre es, Biontech, Pfizer oder Astrazeneca für sichere Sieger zu halten. Denn unmittelbar hinter dieser "Ausreißertruppe" hat sich inzwischen ein Feld von großen Konzernen positioniert, die ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite haben: Johnson & Johnson, Sanofi, Glaxosmithkline und Merck & Co. sind erfahrene Impfstoffspezialisten mit entsprechender Infrastruktur und vollen Kassen. Sie, aber auch andere, können das Führungstrio durchaus noch überholen.

Dazu muss ein Impfstoff nicht unbedingt haushoch überlegen sein. Es braucht nur eine in etwa vergleichbare Wirksamkeit und einen zusätzlichen Faktor, zum Beispiel nur eine statt zwei notwendigen Dosen oder eine Transport- und Lagerfähigkeit bei Kühlschrank- oder gar Raumtemperatur statt gefroren, wie es bei mRNA-Impfstoffen bisher nötig ist. Das Rennen bleibt also offen. Doch je mehr Firmen am Wettbewerb teilnehmen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die WHO-Warnung nicht Realität wird.
 


INVESTOR-INFO

Moderna

Die Luft wird dünner

Der Favorit ist über Patente und Preise etwas ins Straucheln geraten. Generell kommt die großspurige Kommunikation des Managements, auf die nur mit großer Verzögerung Daten folgen, nicht mehr so gut an, ebenso wenig wie die Aktienverkäufe der Vorstände. Moderna liegt bei der Impfstoffentwicklung weiter in der Spitzengruppe. Doch die Bewertung von 25 Milliarden Euro ist sehr ambitioniert. Profi-Investoren bezweifeln daher, dass die Aktie noch viel Luft nach oben hat. Dafür steigt das Risiko von Rücksetzern.

Empfehlung: Beobachten
Kursziel: 72,00 Euro
Stoppkurs: 51,00 Euro

Biontech

Überzeugende Teamarbeit

Auch Biontechs Kurs ist stark gestiegen, doch liegt der Zuwachs noch deutlich unter dem der Moderna-Aktien. Bisher überzeugen die Daten der Mainzer. Durch die Zusammenarbeit mit Pfizer haben sie Zugriff auf eine etablierte Infrastruktur für die Durchführung der Phase-3-Studie mit 30.000 Teilnehmern weltweit sowie Produktions- und Vertriebskanäle. Fehlschläge und Verzögerungen sind jedoch jederzeit möglich. Für risikobereite Anleger.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 90,00 Euro
Stoppkurs: 54,00 Euro