Damit stellte sich das Gericht erstmals auch gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Gegenstand waren die 2015 gestarteten Anleihekäufe des sogenannten PSPP-Programms, das der EuGH für rechtens erklärt hat.

Die Anleihekäufe wurden zwar vom BGH nicht grundsätzlich als Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung eingestuft. Die EZB habe aber die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu wenig geprüft. Ebenso wie die Bundesregierung, die dagegen hätte vorgehen müssen, dass die EZB ihre Beschlüsse nicht auf Verhältnismäßigkeit überprüft habe. Die EZB hätte außerdem die ökonomischen Folgen für Sparer, Aktionäre oder Immobilieneigentümer berücksichtigen müssen. An die Bundesbank erging die Anweisung, sich nicht mehr an den Maßnahmen zu beteiligen, sollte die EZB diese nicht innerhalb von drei Monaten ausführlich begründen.

Experten rechnen zwar damit, dass die EZB diese Begründung liefern kann und die Anleihekäufe deshalb kurzfristig nicht gefährdet sind. Das Urteil löste dennoch eine heftige Debatte über die künftige Zusammenarbeit der europäischen Institutionen aus. Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer befürchtet, das Urteil komme zur Unzeit und könnte die Corona-Krise verschärfen. Um die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu bekämpfen, hatte die EZB die Anleihekäufe erst kürzlich deutlich ausgeweitet. "Im Kern hat das Verfassungsgericht der EZB grünes Licht gegeben", kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer den Richterspruch. Das Urteil sei zwar ein Affront gegenüber dem EuGH, werde aber das neue Anleiheprogramm nicht stoppen.

"Aktionärsrechte gestärkt"


Friedrich Merz, Vizechef des CDU-Wirtschaftsrats, hält den BVG-Spruch für einen gravierenden Einschnitt in der europäischen Rechtsgeschichte. "Mit diesem Urteil werden die Rechte von Sparern, Versicherungsnehmern, Mietern, Immobilieneigentümern und Aktionären gestärkt", so Merz in einem Gastbeitrag für das "Handelsblatt".

Ähnlich äußert sich Ifo-Chef Clemens Fuest: Die EZB werde aufgefordert, öffentlich darzulegen, dass ihre Anleihekäufe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. "Sie muss rechtfertigen, dass es sinnvoll sei, Nebenwirkungen wie etwa die Belastung der Sparer oder die Auswirkungen auf Immobilienpreise hinzunehmen."

FDP-Finanzexperte Florian Toncar fordert als Konsequenz aus dem Urteil eine stärkere Beaufsichtigung der EZB durch ein Sondergremium des Bundestags. "Mandat und Governance der EZB gehören auf die Agenda der europäischen Regierungschefs und der deutschen EU-Rats-präsidentschaft."

So oder so wird das Urteil des Verfassungsgerichts von Experten als "Wegscheide in der europäischen Rechtsentwicklung" wahrgenommen, wie es etwa der Frankfurter Europarechtler Christoph Schalast formulierte. "Dieses Urteil wird intensive Diskussionen und weitere Gerichtsurteile auslösen."

Obwohl die EZB das Urteil weder anerkenne noch für richtig halte, werde sie in Zukunft die Begründungsanforderungen aus Karlsruhe beachten - allein um nicht in neue Konflikte zu geraten, glaubt Schalast. Weiterer Effekt: Die Zahl der Verfassungsbeschwerden in Deutschland gegen Handlungen der EZB und künftig wohl auch andere EU-Organe werde zunehmen. Und: Künftig könnten wohl auch Gerichte aus den anderen Euroländern versuchen, Maßnahmen der EZB infrage zu stel- len - die "vielleicht problematischste Konsequenz dieses Urteils", so Schalast, der jetzt viel zerbrochenes Porzellan und Klärungsbedarf bei den Auswirkungen des Karlsruher Urteils sieht.