Der Mann ist von früher Jugend an ein homo politicus. Man dürfte in Deutschland kaum einen Politiker finden, der in den Parlamenten aller Ebenen saß und sogar noch ein hauptamtliches kommunales Wahlamt erfolgreich bekleidete. Der 52-jährige Michael Theurer, heute einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der FDP im Deutschen Bundestag und dort zuständig für die Themenbereiche Wirtschaft, Arbeit und Soziales sowie Energie und Gesundheit, ist ein politischer Tausendsassa. Der leutselige Schwabe, bekennender Spätzle-Fan, nennt die Politik auf seiner Website nicht seine Arbeit, sondern "seine Leidenschaft". Und die spürt man, wenn er sich mit Dialekteinfärbung über die Staatsgläubigen echauffiert, die aktuellen Berliner Enteignungsfantasien geißelt oder Respekt für die Leistungsträger anmahnt, ohne die es keinen Wohlstand gebe.

Mit 16 Jahren trat er als Gymnasiast in die FDP ein. Mit 22 Jahren wurde Theurer in seinem Heimatstädtchen Horb am Neckar in den Gemeinderat gewählt und avancierte dort gleich zum Fraktionsvorsitzenden. Nach Abitur und Wehrdienst volontierte er als Journalist, arbeitete kurzzeitig als Lokalredakteur, ehe er sich 1990 für ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Tübingen entschied. Das schloss er 1995 erfolgreich ab, nachdem er Monate zuvor noch als Student im Alter von 27 Jahren in Horb zum damals jüngsten Oberbürgermeister Deutschlands gewählt wurde. Die Horber wählten ihn nach acht Jahren im Amt erneut für eine zweite Wahlperiode. Im Stuttgarter Landtag saß er als Oberbürgermeister knapp zwei Wahlperioden (2001 bis 2009), ehe er dann direkt als Europa­abgeordneter nach Straßburg wechselte und seine Wahlämter in Horb und Stuttgart niederlegen musste.

Auch innerparteilichen Mut kann man ihm bescheinigen. Auf einem Sonderparteitag im Jahr 2011 forderte er die langjährige FDP-Landesvorsitzende und damalige Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Birgit Homburger, überraschend heraus. Das Partei-Establishment war über seine Kandidatur alles andere als begeistert. Doch der ungeliebte Herausforderer zwang Homburger nach einem Patt im ersten Wahlgang in die Stichwahl, die sie mit 197 zu 194 Stimmen nur hauchdünn gewann. Zwei Jahre später übernahm Theurer dann den FDP-Landesvorsitz in Baden-Württemberg, als er ebenfalls in einer Kampfabstimmung gegen den Landtagsfraktionsvorsitzenden Hans-Ulrich Rülke mit 199 zu 188 Stimmen knapp gewann. Wiedergewählt wurde er später dann aber unangefochten.

€uro am Sonntag: Die aktuelle Enteignungsdebatte in Berlin "krönt" eine staatsgläubige Mentalität, die sich seit Jahren schon in hohen demoskopischen Zustimmungswerten für einen starken Staat niederschlägt. Liberale Ideen haben es inzwischen selbst in bürgerlichen Kreisen schwer. Wie erklären Sie sich diese fatale Entwicklung, die marktwirtschaftliche Tugenden als Basis unseres Wohlstands fast komplett ausblendet?
Michael Theurer:
Es ist erschreckend, wie stark der etatistische Zeitgeist geworden ist. Durch Verstaatlichung entsteht keine einzige Wohnung zusätzlich. Offensichtlich haben breite Teile der Bevölkerung vergessen, wie planwirtschaftliche Systeme in der Realität zu Mangel und Warteschlangen führen. Bürgerliche Parteien haben es versäumt, an Beispielen deutlich zu machen, wo die Überlegenheit des Marktes liegt. Leider ist die Politik der schwarz-­roten Koalition bereits geprägt durch etatistische Eingriffe in den Wohnungsmarkt - wie etwa die Mietpreisbremse. Wir erleben hier eine Interventionsspirale: Der Staat greift ein, es wird nicht besser, und deshalb wird erst recht, vom Zeitgeist beflügelt, nach immer weiteren und dirigistischeren Staatseingriffen gerufen.

In ihrer vorletzten Neujahrsansprache stimmte die Bundeskanzlerin ein Loblied auf den starken Staat an: "Wir werden noch mehr in einen starken Staat investieren müssen, der die Regeln ­unseres Zusammenlebens verteidigt und für Ihre Sicherheit - für unser aller Sicherheit - sorgt." Ist das auch Ihr Staats­verständnis, Herr Theurer?

Liberale wollen auch einen starken Staat, aber einen Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert. Das sind innere und äußere Sicherheit, Bildung und Infrastruktur. Ökonomisch stark ist ein Staat nur dann, wenn er die Kreativität und Leistungskraft der Bürgerinnen und Bürger fördert und ihnen Freiräume belässt. Genau an diesem Punkt setzt die freidemokratische Kritik an Kanzlerin Merkel an.

Aber wie dringt die FDP mit Kritik am etatistischen Zeitgeist durch, der nicht nur das Regierungshandeln prägt, sondern auch alle anderen Konkurrenzparteien in der Opposition? Die FDP liegt in den Umfragen ziemlich stabil knapp zwei Prozent unter dem letzten Bundestagsergebnis, während sich die Grünen als einzige Parlamentspartei gesteigert, ja sogar mehr als verdoppelt haben. Mit solchen Umfragen im Rücken plädiert dann ein Robert Habeck für Enteignungen.

Die Grünen haben mit der Enteignungsforderung ihres Bundesvorsitzenden ihre bürgerliche Maske fallen lassen und zeigen, dass sie im Kern eine linke Partei sind. Doch mit der Staatsgläubigkeit der Grünen setzen wir unsere Zukunftsfähigkeit aufs Spiel. Die Überregulierung in Deutschland zeigt bereits jetzt negative Wirkung. Unser Wirtschaftsraum in Deutschland und Europa ist weniger dynamisch als andere Regionen der Welt, etwa die USA und vor allem Asien.

Auf Seite 2: Welche Position vertritt denn die FDP?

Welche Position vertritt denn die FDP?


Als Freie Demokraten können wir nicht laut genug die ordnungspolitische Orientierung einfordern. Gleichzeitig muss die FDP aber auch Antworten auf die großen Fragen liefern, die unsere Bürger bewegen: Wie kann Klimaschutz mit marktwirtschaftlichen Instrumenten erreicht werden? Wie lässt sich durch eine digitale Wettbewerbspolitik die Marktmacht großer Internetgiganten brechen? Die Plattformökonomie tendiert zu natürlichen Monopolen. In einer sozialen Marktwirtschaft muss auch in diesem Wirtschaftssektor durch die Ordnungspolitik ein Rahmen für fairen Wettbewerb gesetzt werden.

Da beweist nicht zuletzt die liberale Spitzenkandidatin in Europa, Wett­bewerbskommissarin Margrethe ­Vestager, mit ihren hohen Strafen gegen Google und Facebook wegen Mo­nopolmissbrauchs marktwirtschaftliches Rückgrat. Peter Altmaier, der deutsche Wirtschaftsminister, redet dagegen ­einer europäischen Industrie- politik das Wort, indem er - staatlich gefördert - große nationale oder europäische Champions kreieren will.

Altmaiers Ansatz ist ein planwirtschaftlicher Irrweg. Im Gegensatz dazu steht der klar wettbewerbspolitisch begründete Kurs der liberalen EU-Kommissarin. Die Fusion alter Industrien zu großen Konzernen und Konglomeraten, die dem deutschen Wirtschaftsminister vorschwebt, untergräbt die eigentliche Stärke Deutschlands und Europas. Denn das ist ein funktionierender Wettbewerb, der beispielsweise bei uns deutlich über 1000 mittelständische "Hidden Champions" hervorgebracht hat, die durch ihre Innovationskraft zu Technologieführern in vielen Marktsegmenten wurden.

In Deutschland weiß der Wirtschafts­minister anscheinend ganz genau, wo das Heil der Automobilindustrie liegt: im batteriegetriebenen Elektroauto.

Die Konzentration auf die Lithium-­Ionen-Akkumobilität ist mit Sicherheit falsch. Wir brauchen unbedingt Technologieoffenheit. Synthetische Kraftstoffe - e-fuel - ermöglichen eine CO2-freie Mobilität. Das Grundrecht auf individuelle Mobilität darf nicht eingeschränkt werden, wie es jetzt durch Fahrverbote für Diesel-Pkw kommt.

Klimawandel, Verkehrs- und Energiewende: Mit diesen Politikfeldern gehen die Grünen hausieren. In den gutsituierten urbanen grünen Milieus kommt heute Staat vor privat. Eigenverant­wortung scheint dort inzwischen ein Fremdwort geworden zu sein. Vielmehr soll es die Politik mit Ge- und Verboten richten.

Die Staatsgläubigkeit in weiten Teilen unserer Bevölkerung halte ich für gefährlich. Denn dirigistische Eingriffe des Staates bremsen unsere Innovations- und Wachstumsdynamik. Hier kann und muss die FDP noch viel stärker Überzeugungsarbeit leisten - für unternehmerische wie individuelle Freiheit, ohne die es keinen Wohlstand gibt. Ich will aber nicht verkennen, dass negative Wirkungen der Globalisierung die Skepsis gegenüber unserer Wirtschaftsordnung befördert haben. Die digitalen Monopole haben dazu beigetragen, aber auch das Versagen großer Finanzmarktakteure, denen der Staat dann beisprang nach dem Motto: "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren!" Aus ordnungspolitischer Sicht war das der Dammbruch, weil Haftung und Verantwortung plötzlich nicht mehr zum Wertekanon unserer Marktwirtschaft zählten. Deutschland braucht ­unbedingt wieder eine breite gesellschaftliche Debatte über das ordnungspolitische Leitbild unseres Staats, ja ­unserer Wirtschaftsordnung.

Man könnte an dieser Stelle an Alexis de Tocqueville erinnern, der vor knapp 200 Jahren sinngemäß formulierte: Je komplexer und verworrener die Lage, desto eher sind die Menschen gewillt, "ihre Rechte für ihre Ruhe zu opfern".

Die Sirenengesänge von sozialistischen wie nationalistischen Staatsinterventionisten hat es zu allen Zeiten gegeben. Gleichzeitig zeigt die geschichtliche Entwicklung der Bundesrepublik aber auch, dass eine verhältnismäßig kleine FDP immer wieder dafür sorgen konnte, dass Deutschland seinen ordnungspolitischen Kompass nicht verloren hat.

Das gibt das Stichwort für die Schluss­frage: Die Jamaika-Koalition ist im ersten Anlauf gescheitert. Wird die FDP eine mögliche Wiederauflage erneut ­torpedieren? Gibt es nach den Europawahlen und den ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst Neuwahlen oder ­einen fliegenden Koalitionswechsel?

Ob es nach der Europawahl eine Chance gibt, die GroKo als Koalition der Stagnation abzulösen, vor allem auch durch einen Wechsel im Kanzleramt ein Zeichen der Erneuerung für Deutschland zu setzen, das hängt ganz maßgeblich vom Wahlergebnis ab. Ein starkes Ergebnis für die Freien Demokraten wäre auf jeden Fall ein Signal der marktwirtschaftlichen Erneuerung. Im Hinblick auf künftige Bündnisse ist die FDP auf jeden Fall bereit, Verantwortung auch in einer Regierung zu übernehmen, wenn wesentliche unserer Forderungen umgesetzt werden, wie beispielsweise die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags oder die Entlastung von Unternehmen und Arbeitnehmern bei den Abgaben.

Vita:
Michael Theurer
Seit 2013 ist Theurer Vorsitzender des FDP-Landesverbands Baden-­Württemberg sowie Mitglied im FDP-­Präsidium, wo der 52-Jährige für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit verantwortlich ist. In der Bundestagsfraktion ist der Volkswirt stellvertretender Fraktionsvorsitzender und zuständig für die Themenbereiche Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Energie und Gesundheit.