Das Ende rückt näher: Noch im August dürfte die Pleitefirma Wirecard aus dem DAX fliegen. Die Deutsche Börse als Indexhüter prüft derzeit, wie sie grundsätzlich mit insolventen Unternehmen umgehen soll. Die Ergebnisse einer entsprechenden Umfrage unter Anlegern und Händlern sollen spätestens am 12. August veröffentlicht werden. Ein Eingreifen der Börse könnte dann kurzfristig erfolgen. Die nächste turnusgemäße Überprüfung des DAX steht im September an. Dann würde Wirecard aufgrund der massiven Kursverluste der Aktie in jedem Fall aus dem Leitindex entfernt werden.

Ein Rausschmiss der Finanztechnikfirma ist nach Überzeugung vieler Börsianer überfällig: "Insolvenzen sollten zu schnellen Indexausschlüssen führen. Es ist ein Reputationsproblem für einen Index, wenn er ein insolventes Unternehmen enthält", so Jürgen Hackenberg, Senior Portfoliomanager und Leiter Aktien Diversified bei der Fondsgesellschaft Union Investment.

Die Pleite von Wirecard ist der größte Skandal in der DAX-Geschichte. Besonders bitter: Die Aktie erreichte ihren Höhepunkt nahezu exakt zu jenem Zeitpunkt, als die Firma in den DAX und damit in entsprechende Indexfonds aufgenommen wurde. Offiziell vollzogen wurde der Aufstieg am 24. September 2018. An jenem Tag eröffnete die Wirecard-Aktie in Frankfurt bei einem Kurs von 177 Euro - nur zwölf Prozent unter dem Allzeithoch.

Auffallend schlecht

Wirecard ist ein extremer Fall, aber keineswegs die Ausnahme: Die Beförderung in den DAX ist für Unternehmen ein Imagegewinn, für Investoren aber ist sie wie ein böses Omen. Eine Berechnung von €uro am Sonntag zeigt, dass sich die Aktien von Aufsteigern auffallend oft sehr schlecht entwickeln: Jene neun Unternehmen, die es seit der großen Finanzkrise in den DAX schafften, haben in den ersten zwölf Monaten im Leitindex im Schnitt fast fünf Prozent an Wert verloren. Der DAX erreichte im selben Zeitraum ein Plus von acht Prozent. Das entspricht einer Unterrendite der Newcomer von rund 13 Prozent.

Warum sind Aufsteiger so schlecht? Jeder Einzelfall ist anders, es gibt aber übergreifende Einflussfaktoren: Bei den meisten großen Indizes ist die Marktkapitalisierung das entscheidende Kriterium für die Mitgliedschaft. Nur die größten Unternehmen werden aufgenommen. Wer es aus der zweiten Reihe nach oben schaffen will, muss sich also kräftig strecken. Das hat zur Folge, dass die Aktien der Aufsteiger bereits deutlich zugelegt und einen erheblichen Teil ihres Potenzials ausgereizt haben.

Die neun DAX-Neulinge seit der Finanzkrise hatten in den zwölf Monaten vor dem Aufstieg im Schnitt um 55 Prozent zugelegt und den Index in diesem Zeitraum somit um 45 Prozentpunkte geschlagen. Der DAX verhält sich also wie ein Anleger, der stark gestiegene Aktien ins Depot nimmt und damit Gefahr läuft, überteuert einzukaufen.

Eine der positiven Ausnahmen ist Continental: Die Aktie wurde im September 2012 nach einer Wertverdopplung aufgenommen. In den ersten zwölf Monaten im Index legte der Kurs aber um weitere 58 Prozent zu und stieg danach sogar noch stärker. Continental war ein Momentumwert, eine Aktie, die trotz deutlicher Kursgewinne nicht zu stoppen ist. Auch Momentumtitel werden aber irgendwann von der Schwerkraft eingeholt. Heute, knapp acht Jahre nach dem Aufstieg, notiert die Aktie des Autozulieferers nur noch leicht über dem damaligen Aufnahmekurs.

Auch Wirecard wurde von einer rasanten Rally in den DAX getragen. Aber schon das erste Jahr im Index enttäuschte: Während sich der DAX seitwärts bewegte, verlor die Finanztechfirma 18 Prozent. Das war, wie heute klar ist, erst der Anfang der Katastrophe. Die besondere Aufmerksamkeit bei Investoren und Medien, die die Mitgliedschaft im DAX mit sich bringt, dürfte dazu beigetragen haben, dass die Bilanzfälschungen aufgedeckt wurden.

Pandemieopfer

Die letzten beiden DAX-Aufsteiger sind noch kein komplettes Jahr im Index: MTU Aero Engines schaffte den Sprung im September 2019 und wurde von der Pandemie hart erwischt. Die Aktie des Motorenbauers notiert mehr als ein Drittel unter dem Aufnahmeniveau. Die Entwicklung hängt vor allem daran, wie der Kampf gegen das Virus verläuft. Deutsche Wohnen, der jüngste DAX-Neuling, hat sich dagegen mit einer leicht überdurchschnittlichen Wertentwicklung gut eingeführt. Als Immobilienkonzern sind die Berliner gegen die Viruswirren relativ gut geschützt.

Die Nachfolgekandidaten für Wirecard sind Delivery Hero und Symrise. Auf Basis der letzten von der Deutschen Börse veröffentlichten Rangliste hat Delivery Hero knapp die Nase vorn. Der Aktienkurs des Essenslieferdiensts hat sich über die vergangenen zwölf Monate mehr als verdoppelt, das Unternehmen schreibt jedoch rote Zahlen. Bei Symrise ist die Entwicklung mit einem Kursplus von rund 35 Prozent nicht so extrem. Zudem ist der Duft- und Aromenhersteller profitabel und wäre somit ein weniger spekulatives Indexmitglied.

Schärfere Vorgaben

Aktuell geht es in der Regeldiskussion um eine Sonderklausel bei Insolvenzfällen. Denkbar wären weitere Kriterien: So müssen Unternehmen, die in den amerikanischen Aktienindex S & P 500 wollen, nachgewiesen haben, dass sie Gewinne erwirtschaften können. Nach Einschätzung der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz ginge eine solche Vorgabe aber zu weit: "Würde Profitabilität zur Voraussetzung für die Mitgliedschaft im DAX, wäre die Tür für viele Wachstumsunternehmen wohl für immer geschlossen", warnt DSW-Sprecher Jürgen Kurz. Wichtiger ist aus Sicht der Aktionärsschützer ein anderer Punkt: "DAX-Unternehmen sollten gewisse Mindestanforderungen in Sachen Corporate Governance erfüllen, etwa beim internen Risikomanagement", erläutert Kurz.

Für Union-Fondsmanager Hackenberg geht es vor allem um Transparenz: "Abgesehen vom Sonderfall einer Insolvenz sollte die Indexkonstruktion grundsätzlich weiter nach klaren, quantitativen Regeln erfolgen. Ansonsten droht die Zusammensetzung intransparent oder gar willkürlich zu werden."

DAX-Absteiger haben sich übrigens nach ihrem Abschied aus dem Index noch schlechter geschlagen als die Aufsteiger: Die letzten neun Aktien, die den DAX verlassen mussten, haben in den ersten zwölf Monaten danach im Schnitt zehn Prozent an Wert verloren.

 


INVESTOR-INFO

Delivery Hero

Heiße Lieferung

Der Essenslieferdienst gehört zu den Gewinnern der Pandemie. Die Zahl der Bestellungen hat sich allein zwischen April und Juni auf 281 Millionen nahezu verdoppelt. Die Umsatzprognose für das Gesamtjahr haben die Berliner auf 2,6 bis 2,8 Milliarden Euro angehoben. Analysten gehen allerdings davon aus, dass Delivery Hero im laufenden und im kommenden Jahr Verluste erwirtschaften wird. Das Momentum der Aktie ist noch immer hoch. Anleger sollten investiert blieben.

Empfehlung: Beobachten
Kursziel: 107,00 Euro
Stoppkurs: 79,00 Euro

Deutsche Wohnen

Spektakulärer Standort

Niedrige Zinsen machen Immobilien zu einer lukrativen Geldanlage. Rund drei Viertel des Bestands der Deutsche Wohnen liegen in Berlin. Die Hauptstadt ist demografisch ein interessanter Standort, auch wenn das Potenzial des Immokonzerns durch den lokalen Mietendeckel gebremst wird. Fundamental ist der DAX-Neuling gut aufgestellt. Neue Impulse für die Aktie könnte der Halbjahresbericht am 13. August bringen. Attraktiv.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 55,00 Euro
Stoppkurs: 35,00 Euro

Symrise

Wertvolle Zutaten

Der Duft- und Aromenhersteller hat im ersten Halbjahr mehr Geld verdient als erwartet. Das operative Ergebnis legte um fast zwölf Prozent auf 393 Millionen Euro zu. Analysten hatten 386 Millionen eingeplant. Die Marge soll im Gesamtjahr bei 21 bis 22 Prozent liegen. Symrise ist Zulieferer der Nahrungsmittelindustrie und anderer defensiver Branchen. Die Aktie ist nicht mehr billig, bietet als defensiver Wachstumswert aber weiter Chancen.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 125,00 Euro
Stoppkurs: 77,00 Euro