Folker Hellmeyer kann man ­einen alten Investmenthasen nennen, ohne ihm zu nahe zu treten. Mit seinem Wissen nach knapp vier Jahrzehnten im Finanzgeschäft ist er ein idealer Gesprächspartner, um die aktuelle Börsenentwicklung adäquat einzuordnen.

€uro am Sonntag: Die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise sind schwer absehbar. Wie sollten sich An­leger in dieser Situation verhalten?
Folker Hellmeyer: Die erste Maßgabe in solchen Situationen ist immer: kühlen Kopf bewahren und die Dinge rational betrachten. Fakt ist, dass wir den schwersten Konjunktureinbruch haben, seit es Industrienationen gibt. Gleichzeitig ist der Zustand allerdings auch eine Anomalie, weil der Shutdown weltweit durch das Handeln der Regierungen verursacht wurde. Folglich ist es Aufgabe der Politik, die tragenden Strukturen der Wirtschaft am Leben zu erhalten und den Aufschwung zu ermöglichen. Diese Stabilisierungsmaßnahmen durch die Politik haben wir auch gesehen. Die Corona-Pandemie stellt ein temporäres Phänomen dar. Wenn wir sie mit der Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970 vergleichen, kann man davon ausgehen, dass wir in maximal zwei Jahren den nötigen Durch­seuchungsgrad erreicht haben.

Gibt es Konjunktur-Hoffnungssignale?
Ja, die gibt es. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben wir den Tiefpunkt der negativen konjunkturellen Anpassung im April gesehen. Ausgehend von Asien, aber mittlerweile auch in Europa, sehen wir eine Wiederbelebung der wirtschaftlichen Tätigkeit von einem niedrigen Niveau. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis Ende des Jahres an den unteren Bereich des durchschnittlichen globalen Wachstums in Höhe von 2,8 bis drei Prozent kommen, ist ausgesprochen hoch. Im nächsten Jahr erwarten uns zum Beispiel Aufholprozesse im Produktionssektor aus 2020. Hinzu kommt eine Neujustierung der Globa­lisierung. Produktionsstätten werden wieder in den Westen verlagert. Ein ­mittel- bis langfristig entscheidender Wachstumstreiber sind Konjunkturprogramme, die weltweit aufgelegt werden.

Und was bedeutet das für den Anleger?
Der Investor steht vor der Entscheidung, ob er die Schockstarre im April oder das Gesamtbild, das auch die kommende Wachstumsdynamik einbezieht, als Grundlage seiner Anlageentscheidung nimmt. Wir haben die aggressivsten Zinssenkungen im kürzesten Zeitraum in der Geschichte der Finanzmärkte gesehen. Der Prozess ist insbesondere mit Blick auf UK und die USA noch nicht abgeschlossen. Bei der EZB sehe ich, mit Ausnahme von quantitativen Maßnahmen, kaum Spielraum auf der Zinsseite. Wir haben bei leicht weiter fallender Tendenz das niedrigste Zinsniveau, das je etabliert wurde. ­Daraus ergibt sich ein Anlagenotstand, wie wir ihn noch nie in der Geschichte gesehen haben.

Was heißt das für Aktien und Anleihen?
Die westlichen Anleihemärkte bieten größtenteils keine laufenden Erträge mehr. Selbst der Kapitalerhalt nach Inflation ist nicht mehr möglich. Interessant sind Anleihen aus Schwellenländern mit starken Strukturdaten. Aus meiner Sicht gibt es dadurch eine ganz klare Fokussierung auf die Aktienmärkte. Der deutliche Anstieg des DAX von den Tiefstständen ist vor diesem Hintergrund nicht irrational. Er ist vielmehr rationaler Ausdruck dafür, dass Märkte nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die zukünftige Entwicklung bewerten.

Kommen Investoren mit Gold und ­Immobilien gut durch die Krise?
Ich habe auch schon vor der Corona-Pandemie die Auffassung vertreten, dass Investments in reale Werte wie Edelmetalle, Aktien und Immobilien die tragenden Säulen der Asset Allocation sind. Für Aktien bin ich bullish, allerdings gilt es hier stark auf die Branchen zu achten. Bei den Immobilien in Deutschland bin ich sehr zuversichtlich, dass die Bewertungsniveaus mindestens gehalten werden. Die russische und die chinesische Zentralbank bauen seit Jahren Edelmetallreserven auf, auch, um sich unabhängiger vom US-Dollar zu machen. Das ist für mich mit ein Grund, dass auch private Haushalte Gold mindestens in Höhe von fünf Prozent des frei verfügbaren Vermögens physisch vorhalten sollten.

Firmen, die vor der Corona-Krise schon fast pleite waren, werden als Zombie­firmen mit viel Notenbankliquidität künstlich am Leben gehalten. Ist dieses Vorgehen alternativlos?
In der jetzigen Situation wäre die Alternative gewesen, dass gar nichts gemacht wird. So war es zur Zeit der Hongkong-Grippe. Da der Staat in der jetzigen Situation die Lockdown-Maßnahmen beschlossen hat, sind die flankierenden Maßnahmen der Zentralbanken auch schlüssig. Natürlich gibt es auch Zombie-Unternehmen, obwohl ich den Begriff nicht sonderlich mag. In dem Zusammenhang müssen wir uns die Frage beantworten, ob sie ein temporäres Phänomen oder Teil einer neuen Struktur des Null- und Negativzinsumfelds sind. Aus meiner Sicht sind sie kein temporäres Phänomen, daher muss man die Unternehmen unter dem Blickwinkel dieser neuen Struktur sehen.

Wenn es nach Merkel und Macron geht, soll ein 500-Milliarden-Euro-Paket in der EU für die Folgen der Corona-Krise geschnürt werden. Die EU selbst schlägt 750 Milliarden Euro aus Krediten und Zuschüssen vor. Ist so der Weg in die Transferunion vorgezeichnet?
Für mich ist es ein kleiner Schritt, der zur politischen Integration Europas führen sollte. Solidarität ist eine Zweibahnstraße. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die Welt in Blöcke zerfällt, die nicht europafreundlich sind. Die Struktur Europas, die wir heute haben, ist nicht dafür geschaffen, die deutschen und europäischen Interessen zu vertreten. Für mich ist das Ziel die Vereinigten Staaten von Europa, die auch eine Vergemeinschaftung der Schulden beinhaltet. Deutschland profitiert wie kein anderes Land in der EU von der Entwicklung. Wir haben einen zu niedrigen Euro. Daraus folgt, dass wir mehr exportieren, es mehr Beschäftigung und dadurch ein höheres Steueraufkommen gibt. Seit der Finanzkrise profitiert Deutschland von Windfall-Profits in Höhe von jährlich mehr als 150 Milliarden Euro. Wenn wir davon Teile ab­geben, ist das eine weise Entscheidung. Denn die Europäische Union ist der größte Abnehmer deutscher Waren und das Herzstück der Exportwirtschaft.

Manche Experten sehen nach der Transferunion das Ende der EU, da den wirtschaftlich starken Staaten irgendwann auch die Finanzmittel ausgehen. Ist das zu pessimistisch gedacht?
Ich bin da sehr viel zuversichtlicher. Wir hatten im Januar die höchste Beschäftigung, die es jemals in der Eurozone gegeben hat. Das zeigt, dass Europa auf einem guten Weg ist. Gleichwohl besteht das Risiko. Wir leben in einer Demokratie, und Politik ist nicht immer rational. Ein Auseinanderbrechen der EU können wir nicht vollständig ausschließen, aber ich gehe nicht davon aus. Denn der Nutzen aus der jetzigen Situation ist für alle Teilnehmer größer als die möglichen Chancen und Risiken, die sich aus einer Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit ergeben.

Verliert der Euro an Vertrauen?
Wir haben in akuten Krisenphasen wie aktuell eine Hinwendung zum US-Dollar als Weltleitwährung. Wenn wir uns aber mit den Kerndaten beschäftigen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Der IWF prognostiziert für das laufende Jahr eine Neuverschuldung in den USA in Höhe von 15 Prozent der Wirtschaftsleistung. Für die Eurozone liegt die Prognose bei 7,5 Prozent. Die EU hat Außenhandelsüberschüsse, die USA weisen dagegen starke Defizite auf. Mit 4,9 Prozent der Weltbevölkerung sind in der Eurozone 55 Prozent der Hidden Champions beheimatet. Es fehlt allerdings die politische Union. Diese würde auch der Währung einen positiven Schub geben. Perspektivisch sehe ich eine Stärkung des Euro, weil sich vor allem Schwellenländer zunehmend vom US-Dollar abkoppeln.