Als am 26. Mai 2014 der neu gewählte indische Ministerpräsident Narendra Modi in der Hauptstadt Neu-Delhi die Amtsgeschäfte übernahm, herrschte Euphorie. Die Wähler hatten seine Regierung mit stabilen Mehrheitsverhältnissen ausgestattet. Die Wirtschaft jubelte in Erwartung großer Reformen. Die Börsenindizes erreichten Rekordniveaus.

Ein Jahr später hat sich die größte Begeisterung gelegt; Kritik wird laut: "Bisher hat die Regierung nur geredet, nichts getan", moniert etwa der ehemalige US-Hedgefondsmanager Jim Rogers. Jim O’Neill, als Chefvolkswirt des US-Bankhauses Goldman Sachs vor 14 Jahren Erfinder des Anlagesegments BRIC (Brasilien, Russland, Indien, China), gibt sich ebenfalls enttäuscht. Was indische Aktien angehe, sagte er Anfang Mai, sei er nur noch "neutral". China sei attraktiver.



Zu allem Überfluss hat die indische Regierung in den vergangenen Wochen einen neuen Steuerstreit mit ausländischen Investoren losgetreten. Im Kern geht es dabei um die Erhebung der sogenannten alternativen Mindeststeuer, die ausländische Anlagegesellschaften erheblich belasten würde. Ein weiterer Akt der Willkür in einem Land, in dem die Unternehmensbesteuerung notorisch intransparent, überbürokratisch und launenhaft ist - sagen die Kritiker.

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Ernüchterung an den Börsen

Kein Wunder also, dass Finanzinvestoren zuletzt Geld abzogen. Die beiden Leitindizes Nifty (National Stock Exchange) und Sensex (Bombay Stock Exchange) haben seit ihren Höchstständen Anfang des Jahres zwischenzeitlich um jeweils mehr als zehn Prozent korrigiert.

Steht Modi also für eine reine Ankündigungspolitik - viel reden, nichts tun? Keineswegs. Seine Regierung hat im ersten Amtsjahr eine Fülle von Maßnahmen in die Wege geleitet, die die Basis für ein langfristig höheres Wachstum bilden. Sie investiert massiv in die marode Infrastruktur. Ein eigenes Programm mit einem Volumen von drei Milliarden Euro soll die Reinigung des extrem verseuchten Ganges angehen. Im Einflussbereich dieses Stroms im Norden Indiens leben ähnlich viele Menschen wie in der gesamten EU. Eine Landerwerbsreform, die Investitionen erleichtern soll, wird bislang zwar von der Opposition ausgebremst, ist aber immerhin im Werden.

Weit fortgeschritten ist dagegen Modis Reform der Umsatzsteuer, die die Steuersätze in den indischen Bundesstaaten und -territorien vereinheitlichen soll. Sie zielt auf die Schaffung eines echten Binnenmarkts, um den Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den Regionen des Landes zu erleichtern.

Noch wichtiger ist Modis Basisarbeit in Sachen Infrastruktur. Wenn in Indien binnen eines Jahres Millionen Toiletten errichtet werden, ist das ein pragmatischer Ansatz - mit positiven Langfristfolgen für die Gesundheit der Bevölkerung, das Bildungssystem (viele Mädchen gehen bislang nicht zur Schule, weil dort Örtlichkeiten fehlen) und die Arbeitswelt. Bis 2018 soll fast jeder Haushalt in Indien über ein Bankkonto verfügen; etwa 400 000 wurden in Modis Amtszeit neu eingerichtet - pro Tag. Der Regierungschef und sein Finanzminister Arun Jaitley treiben den Abbau kostspieliger Subventionen voran. Zugleich bauen sie die sozialen Sicherungssysteme aus, die Millionen Haushalte erstmals mit Unfallund Lebensversicherungen in existenziellen Krisen schützen.

Die solide geführte Notenbank begleitet diese Reformen und hat Anfang 2015 angesichts des nachlassenden Inflationsdrucks einen Zinssenkungszyklus eingeleitet. Zahlreiche Branchen - Telekommunikation, Online, Flugverkehr - boomen und profitieren vom riesigen Binnenmarkt. Im Geschäftsjahr 2015/16 wird die Wirtschaft dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge um 7,5 Prozent wachsen, schneller als alle anderen G-20-Staaten. "Nur wenige Länder haben in den vergangenen zwei Jahren eine so dynamische und beeindruckende Wende geschafft", glaubt Brian Coulton, Schwellenländer-Stratege bei der Anlagegesellschaft Legal & General Investment Management.

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Günstig einsteigen

Anlegern bietet die jüngste Korrektur der Börsenindizes eine Einstiegschance. Eine Reihe sehr guter Firmen sind als American oder Global Depository Receipt zu haben (ADR oder GDR, siehe Tabelle). Die drei aufgeführten Privatbanken und der IT-Spezialist Infosys sollten vom dynamischen Wachstum profitieren. Der Mischkonzern Reliance Industries (RIL) deckt unter anderem die Branchen Öl, Chemie, Einzelhandel und Telekommunikation ab, wobei der Ölsektor derzeit noch das Gros der Erlöse einspielt. Trotz des Ende 2014 eingebrochenen Ölpreises und eines um 13 Prozent geringeren Gesamtumsatzes brachte RIL im Fiskaljahr 2014/15 (endete zum 31. März) das Kunststück fertig, den Nettogewinn um fast fünf Prozent auf Rekordniveau zu steigern.

Bewertungstechnisch sind die Aktien zwar nicht billig, aber relativ attraktiv. Nach einer Berechnung von Bloomberg werden Nifty und Sensex zurzeit mit Kurs- Gewinn-Verhältnissen auf Basis des nächsten Jahres von gut 15 bewertet - und damit nicht höher als im Fünf-Jahres-Durchschnitt.

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