Beim Weltwirtschaftsforum in Davos schwärmten Visionäre in der vergangenen Woche von der vierten industriellen Revolution - einer stärkeren Individualisierung der Produkte und extrem vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten in der Großserienproduktion.

Andere Trends in der Industrie sorgen für Ernüchterung. So verliert das verarbeitende Gewerbe gegenüber dem Dienstleistungssektor in den entwickelten Volkswirtschaften seit geraumer Zeit an Bedeutung. Sogar in China ist der Dienstleistungsbereich erstmals für mehr als die Hälfte der Wertschöpfung verantwortlich. Während der Konsum läuft, bewegt sich der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe im Reich der Mitte ebenso wie in den USA unterhalb der Expansionsschwelle. In Europa befindet sich die Industrieproduktion relativ betrachtet ohnehin schon länger auf dem absteigenden Ast. Gleichzeitig hat die Wachstumsdynamik des Welthandels deutlich nachgelassen. Mit rund drei Prozent haben sich die Wachstumsraten gegenüber früher in etwa halbiert. Inzwischen ist von einem Trend hin zur Deindustrialisierung und Deglobalisierung die Rede. Stimmt die These, hat das Folgen für die Finanzmärkte. Zum Teil lassen sich damit sogar die jüngsten Turbulenzen erklären. Denn immer, wenn - wie aktuell - die Industrieproduktion in den USA im Jahresvergleich zehn Monate in Folge schrumpfte, ging das mit einer Rezession einher.

Patrick Artus, Chefvolkswirt der Investmentbank Natixis, beschäftigt sich intensiv mit diesen Trends, die für ihn "keine Fiktion, sondern Fakt" sind. Der gleichzeitige Aufstieg des Dienstleistungssektors erklärt seiner Meinung nach viele der aktuellen Sachverhalte. Zusammengefasst führt die Deindustrialisierung einerseits zu einem geringeren Produktivitätswachstum, weil das im Dienstleistungsbereich niedriger ist als in der Industrie. Das schwächt das Potenzial für Wirtschaftswachstum insgesamt.

Andererseits werden weniger Rohstoffe gebraucht, was deren Preise fallen lässt und die Inflation drückt. Interpretieren die Notenbanken die Gründe für die niedrige Inflation und die Wachstumsschwäche falsch, reagieren sie mit einer unangemessen expansiven Geldpolitik. Das erhöht das Risiko der finanziellen Instabilität. Zumal eine Servicegesellschaft wegen des geringeren Investitionsbedarfs weniger kapitalintensiv ist und über ein größeres Sparpotenzial verfügt. Das wiederum drückt die realen Langfristrenditen auf ungewöhnlich tiefe Niveaus. Wird außerdem das überschüssige Kapital in andere Vermögenswerte gesteckt, besteht Blasen- und Umschichtungsgefahr, was für hohe Volatilität sorgt.

Für Artus hat das vielschichtige Folgen. So werde die Einkommensungleichheit erhöht, weil viele unterdurchschnittlich bezahlte Dienstleistungsjobs einer relativ geringen Zahl an gut dotierten Stellen für hochqualifizierte Fachkräfte gegenüberstehen. Ein Umstand, der soziales Konfliktpotenzial beinhaltet. Gemildert werde auch der Lohndruck, weil die im Dienstleistungssektor Beschäftigten über relativ wenig Macht verfügten. Unternehmen verhelfe das zu hohen Gewinnen in einer Zeit, in der kaum Kapital für Investitionen benötigt wird. Die generierten Finanzmittel würden in Dividenden, Aktienrückkäufe und Übernahmen gesteckt, was ebenfalls die Blasenbildung fördere.

Artus geht noch weiter. Er macht die Deindustrialisierung mitverantwortlich für die Abkoppelung der Konjunkturzyklen in verschiedenen Weltregionen und die jeweils dort betriebene Geldpolitik, was die Ausschläge bei den Währungen verstärkt.

Auf Basis dieser Annahmen hat der Experte klare Ratschläge parat. Falls aus strukturellen Gründen die Inflation niedrig und die Volatilität der Vermögenspreise hoch sei, sollten die Notenbanken ihre Inflationsziele aufgeben und stattdessen Stabilisierungsziele vorgeben. "Dienstleistungs-Volkswirtschaften erfordern eine andere Geldpolitik als industrielle Volkswirtschaften, weil auch Folgen wie Rohstoffpreise und Produktivitätsgewinne andere sind", sagt Artus. Gleichzeitig müssten sich Anleger auf niedrige Langfristrenditen bei Anleihen einstellen sowie auf wechselnde Perioden mit steigenden und fallenden Kursen bei Aktien und Unternehmensanleihen sowie stark schwankende Immobilienpreise. Letzteres spreche statt für strategische eher für taktische Investmententscheidungen.

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Anleger müssen sich anpassen



Investmentbanken geben ihren Kunden neuerdings Tipps zu dem Thema. So rät die Credit Suisse für den Fall einer sich verstärkenden Deglobalisierung dazu, eher auf binnenmarktorientierte Unternehmen mit starken Cashflows und stabilen Dividenden zu setzen statt auf Exportwerte.

Tendenziell spricht das skizzierte Szenario gegen eine nachhaltige Trendwende bei den Rohstoffen und gegen eine dauerhafte Renaissance der Schwellenländer. Vorteilhafter sieht es tendenziell für Bereiche wie Gesundheit, Tourismus oder Bildung aus. Weitere Profiteure sind Unternehmen aus der Robotik- und Automatisierungsindustrie, die für den Trend mitverantwortlich sind, da durch ihre Produkte Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe wegfallen. Allerdings stehen die Aktien dieser Unternehmen in der aktuellen Schwächephase genauso unter Druck wie der Gesamtmarkt.

Die Krux ist, dass Aktien aus Branchen, die von den Trends begünstigt werden, oft sehr hoch bewertet sind. Vertreter aus den Sektoren, die bereits in Schwierigkeiten stecken, sind trotz der aktuellen Baisse teilweise noch nicht günstig genug, um reif für eine Erholung zu sein. So kommen etwa die im iShares US Industrials ETF enthaltenen Aktien im Schnitt noch immer auf ein anspruchsvolles Kurs-Buchwert-Verhältnis von 3,1.

Außerdem sprechen die häufig angeschlagenen Charts momentan gegen den Einstieg. Dazu passt die Einschätzung von Janwillem Acket, Chefökonom der Bank Julius Bär: "Das Risiko einer Rezession im verarbeitenden Sektor kombiniert mit einer Deflation aufgrund fehlender Preissetzungsmacht wird 2016 in vielen Teilen der Welt hoch bleiben. Kein Wunder, dass die Finanzmärkte heute so nervös sind."