Die Brexit-Übergangsphase läuft per Ende des Jahres aus. Und Premier Boris Johnson sorgt für Unruhe. Er will Teile des bereits ratifizierten Vertrags neu verhandeln. Die Grenzfrage zwischen Nordirland und Irland ist plötzlich wieder Thema: Die britische Regierung will im Parlament ein Binnenmarktgesetz durchsetzen - im vollen Bewusstsein, dass es dem Austrittsabkommen mit der Europäischen Union zuwiderläuft. Ganz schön dreist.

Dabei war eigentlich alles geklärt. Und die Unterhändler Großbritanniens und der EU, die sich gerade zur nunmehr achten Verhandlungsrunde treffen, sollten eigentlich über die künftigen Beziehungen nach Ende der Übergangsphase beraten. Doch wie soll das gehen, wenn parallel dazu die Regierung in London Beteiligte vor den Kopf stößt?

Dabei hat man wahrlich Probleme genug im Königreich. In Sachen Corona etwa. Großbritannien weist in Europa mit die höchste Zahl an Toten im Zusammenhang mit der Pandemie auf und wurde wirtschaftlich empfindlich getroffen. Die Wirtschaft ist im Frühjahr regelrecht abgestürzt: Das Bruttoinlandsprodukt brach von April bis Juni um 20,4 Prozent zum Vorquartal ein. Zum Vergleich: Die deutsche Wirtschaft schrumpfte im selben Zeitraum nur um 10,1 Prozent. Insgesamt soll die Konjunktur laut britischer Notenbank dieses Jahr um 9,5 Prozent zurückgehen - eine Rezession, wie sie das Königreich seit 100 Jahren nicht mehr erlebt hat. Der IWF prognostiziert ein moderateres Minus von 6,5 Prozent.

Doch so oder so schlägt das negativ auf den Arbeitsmarkt durch: Die Entlassungsmeldungen der Unternehmen treffen im Tagesrhythmus ein. Im zweiten Quartal wurden so viele Jobs vernichtet wie seit der Finanzkrise 2009 nicht mehr.

Davon abgesehen dürfte es dem Premierminister gar nicht gefallen, dass Umfragen in Schottland eine immer höhere Zustimmung zur Abspaltung vom Vereinigten Königreich signalisieren. Würde heute abgestimmt, würden gut 55 Prozent der schottischen Bevölkerung dafür votieren. Und Schottland ist im Gegensatz zu England klar für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Pfund unter Druck

Sorgen bereitet auch die britische Währung. Zuletzt gab die Bank of America eine Verkaufsempfehlung für das Pfund ab. Zum einen wegen der Hängepartie um das Handelsabkommen mit der EU. Und zum anderen wegen der Folgen der Viruspandemie. Das ist keine gute Basis für eine starke Währung. Stützungsversuche kommen von der Zentralbank Bank of England: Die spricht sich immer noch gegen die Einführung negativer Leitzinsen aus. Dafür hat sie die aktuellen Zinssätze nahe null aber noch einmal bekräftigt: Die Bank Rate liegt bei aktuell 0,1 Prozent.

An der Börse hat das alles Spuren hinterlassen. Britische Aktien haben sich weit weniger vom Corona-Crash erholt als die anderen Börsen in Europa. Als Anleger sollte man also vorsichtig sein und nicht zu große Wetten eingehen.

Wer auf einen Index setzen möchte, scheint mit dem Nebenwertesegment FTSE 250 derzeit besser zu fahren. Bei Einzelwerten ist Qualität gefragt. Interessant bleibt beispielsweise Reckitt Benckiser. Das britisch-niederländische Konsumgüterunternehmen hat eine gute Basis mit Produkten in den Bereichen Desinfektionsmittel und Hygiene (Dettol, Lysol und Sagrotan) sowie im Bereich Gesundheit (Dobendan, Nurofen und Gaviscon). Damit profitiert man sogar von den Auswirkungen der Pandemie. Das Unternehmen erhöhte jüngst die Umsatzprognose für das Geschäftsjahr auf ein Wachstum "im prozentual hoch einstelligen Bereich". Die Analysten der UBS Bank trauen dem Unternehmen jetzt "weitere positive Überraschungen" zu.

Spannend bleibt auch Ocado Group. Der Lebensmittelhändler, der seine Produkte ausschließlich online anbietet, wird praktisch überrannt. Anfang des Jahres belieferte er 800 000 Haushalte - zwischen März und Juli kam eine Million Neukunden dazu, die teilweise zunächst auf Wartelisten geführt wurden. Ocado profitiert davon, dass 77 Prozent aller Briten zumindest einen Teil ihrer Lebensmittel inzwischen über das Internet ordern. Vor einem Jahr waren es erst 61 Prozent. Zwei Bereiche machen das Unternehmen aus: Zum einen ist da Ocado Retail, das Lebensmittel und andere Supermarktprodukte online an Verbraucher verkauft. Und zum anderen gibt es Ocado Solutions, das - noch spannender - die Technologie für den Onlinebetrieb an Supermärkte wie Kroger in den USA, Sobeys in Kanada und Waitrose in Großbritannien verkauft. Malus: Die 2002 gegründete Firma erwartet erst für 2024 einen Gewinn.