Jean Liu kam 1978 in Peking zur Welt. Ihr Vater ist Liu Chuanzhi, der Mitte der 80er-Jahre den Computerhersteller Legend gründete, der sich später in Lenovo umbenannte und heute als einer der erfolgreichsten chinesischen Global Player gilt. Ihr Großvater war einer der Topmanager der Bank of China. Als Teenager las Jean das Buch "The Road Ahead" von Bill Gates - es sollte ihr Leben maßgeblich beeinflussen: Sie entschied sich, an der Universität von Peking Computerwissenschaften zu studieren und hängte dann noch ein Informatikstudium an der renommierten Harvard-Universität an, das sie mit einem Master abschloss.

Ihre nächste Karrierestation: die Invest­mentbank Goldman Sachs. Nach 18 Bewerbungsrunden bot man ihr einen Job an. "Es war der glücklichste Tag meines Lebens, als ich ein Angebot von Goldman Sachs erhielt", sagte sie später. Sie begann 2002 als Junganalystin und arbeitete sich in kurzer Zeit bis zum Managing Director hoch.

Nach zwölf Jahren verließ sie die Großbank für das Start-up Didi Chuxing, kurz Didi, einen Fahrdienstanbieter. Jean Liu hatte am eigenen Leib erlebt, wie schwierig es war, in Peking ein Taxi zu finden, vor allem wenn sie mit ihren drei Kindern unterwegs war. Didi erschien ihr als ein vielversprechendes Investment. Und Didis neues System zur Verbesserung der Mobilität in den verstopften Straßen der Metropolen hatte das Potenzial eines Milliardenmarkts. Gegründet wurde der Fahrdienstvermittler 2005 von Cheng Wei, einem ehemaligen Anzeigenverkäufer.

Damals war das Smartphone in China noch kein selbstverständlicher Gebrauchsgegenstand. Cheng Wei rekrutierte hauptsächlich junge Fahrer, die bereits ein Handy hatten. Im Winter 2012 erlebte Peking einen brutalen Schneesturm, und es war so bitterkalt, dass sich die Menschen scheuten, auf der Straße zu stehen, um ein Taxi heranzuwinken. An diesem Tag gingen zum ersten Mal über 2000 Bestellungen bei Didi ein. Das fiel einem Risikokapitalgeber auf, der sich gleich mit zwei Millionen Dollar an dem Unternehmen beteiligte. "Hätte es in diesem Jahr nicht geschneit, gäbe es Didi heute vielleicht nicht mehr", gab Cheng später zu.

Genialer Coup


Das Unternehmen stand damals in einem erbitterten Konkurrenzkampf mit dem Rivalen Kuaidi Dache. Jean Liu schaffte den Coup, Didi mit Kuaidi zu fusionieren. Das neue Unternehmen wurde damit zum mit Abstand größten Anbieter auf dem chinesischen Markt, noch weit vor Uber aus den USA. Im selben Jahr wurde sie zur Präsidentin von Didi Chuxing befördert, zog sich jedoch über zwei Monate weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, um sich wegen Brustkrebs behandeln zu lassen. "Der Krebs wird keine größeren Auswirkungen auf mein Leben und meine Arbeit haben", schrieb sie in einer E-Mail an die Mitarbeiter. v Die unternehmerische Vision von Didi: mehr Leute in weniger Autos stecken. Gerade in China ist das sinnvoll. Sieben Großstädte haben die Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotoren limitiert, um den Verkehrskollaps und die Luftverschmutzung aufzuhalten. Peking verlost inzwischen Nummernschilder, auf die man im Schnitt 30 Monate warten muss, und Shanghai versteigert die Schilder, für die man auch schon mal 20 000 Euro bezahlen muss. Auch Jean Liu konnte damals in Peking wegen dieser Beschränkungen kein Auto kaufen. Sie und ihre Familie mussten sich auf Taxis verlassen. Sie stand häufig im Regen, da die Wartezeiten sehr lang waren oder die Taxifahrer sie einfach ignorierten.

Heute kann man über Didis Smartphone-­Apps Taxis und Privatwagen bestellen, Mitfahrmöglichkeiten nutzen oder sogar einen Chauffeur organisieren, der das eigene Auto nach Hause fährt, sollte man mal ein Glas über den Durst getrunken haben. "Ride-Hailing" nennt das die Branche. Didis Versprechen: Kein Kunde soll länger als drei Minuten warten.

Die wichtigste Herausforderung aber stand Jean Liu damals noch bevor: Der große Taxikrieg gegen den US-Wettbewerber Uber um die Vorherrschaft in China, dem weltgrößten Automarkt. "Eine Aus­einandersetzung, die in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte ihresgleichen sucht", schrieb das Magazin "Capital". Ein Krieg, der mit zehnstelligen Dollarsummen geführt wurde, mit Terabyte an Daten und unter Beteiligung von Investoren wie Apple, Tencent, Alibaba, Baidu und Saudi-Arabiens Staatsfonds. Uber war bereits im August 2013 in der Volksrepublik gestartet. Travis Kalanick, der Studienabbrecher aus dem Silicon Valley, der mit seiner Fahrdienstvermittlung (fünf Millionen Fahrten pro Tag) die Welt überrollte und Uber zu einem der erfolgreichsten und meistgehassten Unternehmen gemacht hatte, bereiste China und traf sich auch mit dem Didi-Chef Cheng Wei. Er bot Cheng an, sich an Didi zu beteiligen, aber nur, wenn er 40 Prozent übernehmen könne. "Andernfalls werden wir euch plattmachen", drohte der siegesbewusste Kalanick.

Aber Jean Liu und Cheng Wei ließen sich nicht einschüchtern. Es kam zum Abnützungskrieg. Didi gewährte den Kunden großzügige Freifahrten, Uber zog nach. Beide Parteien holten neue Investoren an Bord. Der Kampf wurde sogar zu einer persönlichen Angelegenheit, als Kalanick Jeans Cousine Liu Zhen als oberste Uber-Vertreterin in China einsetzte.

Sieg über den Giganten


Im Juli 2016 ging der Krieg zu Ende. Uber warf das Handtuch, die Verluste und der Druck der Investoren waren letzten Endes zu groß. Der Deal, den Jean Liu mit Ubers Vizepräsidenten Michael ausgehandelt hatte, sah vor, dass Uber sein komplettes China-Geschäft an Didi verkaufen würde - für eine Milliarde Dollar in Cash und einen 17,7-Prozent-Anteil an Didi. Kalanick erhielt ein Aufsichtsratsmandat bei Didi, Jean Liu eines bei Uber. In einer Pekinger Hotelbar stießen sie darauf an.

Was ist das Geheimnis von Jean Lius Erfolg? In einem Interview verriet sie, welches der beste Ratschlag war, den sie je erhalten hatte. Er stammte von ihrem Vater, dem Lenovo-Gründer, und lautete: "Das Leben muss schwer sein. Wenn du mit dieser Mentalität durchs Leben gehst, wird dir keine Herausforderung zu schwer vorkommen. Das Leben muss schwer sein. Erst dann kannst du das Leben wirklich genießen."