Börsenurgestein Jens Ehrhardt warnt vor übertriebenem Optimismus und zieht jetzt sogar Parallelen zu den größten Börsencrashes der Geschichte.

BÖRSE ONLINE: Allen Unkenrufen zum Trotz haben DAX, Dow, S&P 500 und Nasdaq in diesem Jahr neue Rekordhöhen erklommen. Wie geht’s weiter an den Börsen?

Jens Ehrhardt: Da bin ich nicht so optimistisch. Saisonal folgen mit dem August und September zwei der schlechtesten Monate des Jahres. Hinzu kommt: Zwar weisen einige Indizes starke Steigerungen auf, die waren aber eher der Methodik der Indexerfassung als dem tatsächlichen Marktverlauf zu verdanken. Wenn man mal bei den amerikanischen Aktien genau hinschaut, sind beim S & P 500 unter 500 Aktien eigentlich nur sieben Aktien gestiegen. Die anderen 493 Aktien haben im ersten Halbjahr überhaupt nichts zum Anstieg beigetragen. Bis vor Kurzem waren untergewichtete US-Börsenbarometer in diesem Jahr gar nicht gestiegen und nur Japan wies im ersten Halbjahr einen Mediananstieg von elf Prozent auf. Der wurde allerdings vom Währungsrückgang gegenüber Dollar und Euro mehr als ausgelöscht. Um wieder einen besseren Zusammenhang zwischen optischer Indexentwicklung und tatsächlichem Börsenverlauf herzustellen, wurde jetzt eine Indexumstellung beim Nasdaq 100 vorgenommen. Dabei wurde zum Beispiel das Marktgewicht des diesjährigen Spitzenreiters Nvidia um fast drei Prozent zurückgenommen, ähnlich bei Microsoft. Die optische Marktverzerrung sollte also geringer werden.

BÖRSE ONLINE: Kann es nicht sein, dass es im zweiten Halbjahr zu einem Aufschwung auf breiter Front kommt, an dem die Mehrzahl der Aktien partizipiert?

Aus markttechnischer Sicht ist kein allgemeiner Aufschwung, sondern ein allgemeiner Rückgang zu erwarten. Das gilt besonders für die USA, wo der Fear-&-Greed-Börsenindikator mit über 80 Prozent klar in der Greed-, das heißt Verkaufszone angekommen ist. Auch andere Stimmungsindikatoren wie der Optionsmarkt, die Volatilität und der Zufluss zu Aktienfonds sprechen gegen einen neuen Aufschwung. Der Optimismus für die Nasdaq stieg bei Hulbert bis auf 84 Prozent. Ein Rekordwert, von dem es in der Vergangenheit erhebliche Marktrückschläge gab. Damit dürften die Aussichten besonders für die im ersten Halbjahr stark gestiegenen US-Wachstumsaktien aus markttechnischer Sicht ungünstig sein. Zuletzt stieg der Dow-Jones-Industrieaktien Durchschnitt bis 25. Juli zwölf Tage hintereinander. Das gab es nur fünfmal in den letzten 123 Jahren. Zum ersten Mal im Juli 1929 vor dem Beginn der größten Börsenbaisse aller Zeiten. Aber auch im ersten Halbjahr 1987 vor dem Crash im Oktober 1987. Auch in Europa waren 2023 hauptsächlich wenige Wachstumsaktien und Industrietitel für den Indexanstieg verantwortlich. Beim DAX machten zum Beispiel SAP und Siemens fast 40 Prozent des Indexanstiegs aus. Für Rückschlagsgefahren spricht auch die Tatsache, dass in den USA, wie in Europa, zyklische Aktien wie Industrietitel stärker stiegen als defensive Aktien.

BÖRSE ONLINE: Aber es spricht doch viel dafür, dass sich die Zinserhöhungen dem Ende nähern? Könnte das nicht die Börsen beflügeln?

In der Vergangenheit war die Entwicklung an den Weltbörsen in der Phase zwischen Ende der Notenbank-Zinserhöhungen und Beginn der Notenbank Zinssenkungen uneinheitlich. Bei schon schlechter Konjunktur kam es zu Indexrückgängen, bei noch stabiler Konjunktur zu vorübergehenden Kurserholungen. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung stiegen die Aktienkurse in der Vergangenheit erst mit erheblicher Zeitverzögerung, nachdem die US-Notenbank Fed mit monetärer Lockerung begonnen hatte. In der Vergangenheit haben die Börsen weniger auf die Perspektive rückläufiger Zinsen als vielmehr die Tatsache rückläufiger Unternehmensgewinne reagiert. Die Zeit zwischen Notenbank-Bremsmanövern und Konjunkturauswirkung war diesmal besonders lang, weil die US-Konsumenten während der Corona Krise fünf Billionen Dollar fiskalpolitische Zuwendungen erhielten. Diese sind inzwischen aber weitestgehend wieder aufgebraucht. In den USA und Europa rechnet man im zweiten Halbjahr mit mindestens sieben Prozent rückläufigen Gewinnen. Nachdem der Aktienindexanstieg besonders in den USA im ersten Halbjahr nur durch eine Ausdehnung der Kurs-Gewinn Verhältnisse (von 15 auf 20) bedingt war, dürfte im zweiten Halbjahr mit einer negativen Reaktion der Aktienkurse auf die Gewinnentwicklung zu rechnen sein. Die Rezessionswahrscheinlichkeit ist zuletzt zudem gestiegen, im Hinblick auf die erneut höheren Langfristzinsen. Ähnliches war auch im Jahr 1987 zu beobachten, als einerseits die Langfristzinsen heftig anzogen und andererseits der Aktienmarkt eine der besten Entwicklungen im ersten Halbjahr aufwies. Aufgrund der Tatsache, dass die Stimmungsindikatoren in Europa mehr Vorsicht zeigten, könnte die wahrscheinlich kommende Herbst-Börsenreaktion nach unten in Europa schwächer ausfallen als in den USA. Eine echte Abkopplung Europas zulasten der USA hat es aber noch nie längerfristig gegeben.

BÖRSE ONLINE: Und was ist mit den Anleihekursen?

Die Anleihemärkte haben in der Vergangenheit immer positiv auf ein Ende der Zinserhöhungen reagiert. Zwar auch zunächst mal ein paar Monate mit Schwankungen, aber ein Jahr später, zwei Jahre später standen die Anleihekurse immer deutlich höher.

BÖRSE ONLINE: Kommt der Dollar mit dem Ende der Zinserhöhungen weiter unter Druck?

Ich glaube, auch der Dollar wird auf die Dauer eine gute Währung sein. Einfach weil die Wirtschaft dort besser läuft als in Europa. Und die Währungsrelationen richten sich ja einerseits nach Inflation, und die ist jetzt in Amerika deutlich niedriger als in Europa, aber andererseits auch nach der Wirtschaft, die dort besser läuft. Der Euro ist nicht nur gegenüber dem Dollar gestiegen. Wenn Sie die ganzen restlichen Währungen zusammennehmen, also auch den Renminbi, ist der Euro in einem wirklich recht hohen, fast historischen Höchststand gegenüber der Gesamtheit von Außenhandelswährungen Deutschlands.

BÖRSE ONLINE: Wird der Ölpreis wieder anziehen?

Der Ölpreis sollte im zweiten Halbjahr wieder steigen, da der Markt wegen der niedrigeren OPEC-(und Russland-)Öllieferungen deutlich unterversorgt sein dürfte. Russland hat die Ölproduktion zurückgenommen, und auch in den USA gab es seit Jahresanfang einen Produktionsrückgang von 15 Prozent, nachdem die Zahl der Ölbohrtürme um 91 auf 530 zurückging.

BÖRSE ONLINE: Speziell die Zukunft Europas wird dramatisch beschrieben. Gehen Sie davon aus, dass Europa sich auf dem absteigenden Ast befindet?

Ja, ich glaube, wir werden wesentlich schwierigere Zeiten bekommen. Deutschlands Exportanteil hat sich seit der Einführung des Euro fast verdoppelt — von einem Viertel auf die Hälfte der Volkswirtschaft. Und da werden wir eben wesentlich weniger wettbewerbsfähig. Bisher haben wir eigentlich immer diese Abwertung des Euro gehabt und dadurch wurden wir wettbewerbsfähiger. Aber inzwischen sind wir selbst mit diesen Abwertungen nicht mehr richtig wettbewerbsfähig, wie die Rückgänge des Exports zeigen. Das hängt mit der Energiepreis und Strompreisverteuerung zusammen. Und nun will ja unser Wirtschaftsminister die Unternehmen entlasten und Subventionen geben, damit der Strompreis für diese Unternehmen billiger ist. Da hat man wirklich den Eindruck, dass in Deutschland zunächst erst mal eine falsche, wettbewerbsschädigende Politik gemacht wurde und man durch staatliche Subventionen versucht, das wieder auszugleichen. Das ist kein gesundes Konzept. Es ist auf die Dauer wie ein Süchtiger, der zunehmend sein Suchtmittel nimmt, um über die Runden zu kommen.

BÖRSE ONLINE: Sind deutsche Aktien für Sie damit perdu?

Das würde ich so überspitzt nicht sagen. Es gibt immer wieder Branchen oder einzelne Unternehmen, die doch profitable Nischen und Lücken finden. Insgesamt präferiere ich eher den defensiven Sektor, zum Beispiel die Versorger. Der Stromabsatz wird in jedem Fall steigen, ob sie nun mehr oder weniger grüne Politik machen. Und damit werden die Versorger höhere Umsätze haben und wahrscheinlich auch höhere Gewinne.

BÖRSE ONLINE: Kann künstliche Intelligenz ein Gamechanger sein?

Dass die künstliche Intelligenz mit ihrem doch winzigen Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt der Welt nun die Aktienkurse ganz allein bestimmen soll, kann ich mir nicht vorstellen. Und sehr viel ist auch schon vorweggenommen. Ich glaube nicht, dass ein Thema wie KI so wie die Erfindung des Internets die gesamte Wirtschaft so stark voranbringen wird.

BÖRSE ONLINE: Microsoft hat ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von über 30, Nvidia von über 200. Sind diese Werte für Sie als Investor tabu?

Die Fantasie ist grenzenlos. Aber ich denke immer, wer soll jetzt eigentlich noch kaufen, nachdem diese Aktien in aller Munde sind und jeder, der die Entwicklung spielen will, schon engagiert ist? Ich glaube, dass es doch gesamtheitlich ein Stück rückwärtsgeht, und auch die großen Wachstumswerte können sich dann dem nicht mehr entziehen, weil die Bewertungen höher sind als im Jahr 2000.

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