Der blinde Seher" nannte ihn das "Handelsblatt". Niemand hätte ihm früher eine derart spektakuläre Karriere zugetraut. Denn Hans-Christian (Chris) Boos, 1972 in Kon­stanz geboren, war stets ein Außenseiter. Er ist ein Mensch mit Albinismus: Er hat helle Haut, weiße Haare und nicht einmal mehr zehn Prozent Sehkraft. Um lesen zu können, trägt er stets eine Lupe bei sich. "Als Kind wurde ich gehänselt und verprügelt", erklärte Boos in einem Interview. Vor der Einschulung rieten die Lehrer seinen Eltern, den Jungen auf eine Sonderschule zu schicken: "Ihr Sohn wird später Papiertüten falten, finden Sie sich damit ab." Mehr als ein Leben in der Behindertenwerkstatt sei für ihn nicht drin. Im Alter von zehn Jahren bekam Chris Boos seinen ersten Computer geschenkt. Von nun an hatten seine Eltern große Probleme, ihn vom Bildschirm fernzuhalten. Seine Mitschüler nannten ihn einen "Nerd", was damals noch als Schimpfwort galt. Mit 17 entdeckte er das Internet - er war der 78. Nutzer in ganz Deutschland.

Sein Onkel, ein pensionierter Banker, mit dem er später gemeinsam die Firma Arago gründete, förderte seine Computerleidenschaft. "Und dadurch, dass ich ­Albino bin und mich optisch von allen anderen Kindern unterschied, hatte ich bis zur Pubertät sehr viel Zeit für Computer & Co. Erst in der Pubertät wird Anderssein cool. Bis dahin ist man entweder als Person zerbrochen oder hat gelernt, sich selbst zu akzeptieren."

Seine Behinderung hat ihn jedoch nie aufgehalten, im Gegenteil: "Ich sehe nicht gut, ich meine aber, ich habe ein besseres Gehör und Gedächtnis als andere Menschen", sagt Boos. "Ich glaube zudem an den Menschen. Wir können alles schaffen, wir müssen es uns nur zutrauen. Schauen Sie mich an!" Nach dem Abitur studierte Boos Informatik an der ETH in Zürich und an der TU Darmstadt. Er besuchte aber auch Vorlesungen für englische Literatur. Mit 22 brach er sein Studium ab und heuerte als Mitarbeiter bei der Dresdner Bank an. Sein Spezialgebiet damals: Risikomodellierung und Kapitalmarktanalyse. Unter anderem programmierte er die erste deutsche Lösung für das Onlinebanking.

Gründung der eigenen Firma


Ein Jahr später machte er sich selbstständig und gründete Arago, ein IT-Unternehmen, das auf künstliche Intelligenz (KI) spezialisiert ist. Heute ist der Visionär und Querdenker einer der wichtigsten KI-­Pioniere weltweit und expandierte mit seinem Unternehmen bis ins kalifornische Silicon Valley und nach Indien. Die von Arago entwickelte KI-Plattform Hiro setzt Maßstäbe: Immer mehr Unternehmen nutzen die Technik, um Prozesse zu automatisieren und zu optimieren. Seit 2014 ist der Finanzinvestor KKR mit rund 50 Millionen Euro an Arago beteiligt.

Heute ist Boos zudem Mitglied in ­Angela Merkels Digitalrat, der am 22. August 2018 ins Leben gerufen wurde. Er soll die Bundesregierung bei der Digitalisierung und Gestaltung der digitalen ­Transformation der Gesellschaft beraten. Außerdem ist Boos ein weltweit gefragter Redner. Häufig wird er in die Chefetagen von Großkonzernen eingeladen, er geht in den ­Ministerien der Bundesregierung ein und aus und investiert in Start-ups.

Boos glaubt, dass der Einsatz von KI eine riesige Automatisierungswelle auslösen und dass künftig 80 Prozent der Arbeit von Maschinen übernommen wird. "Sie optimieren besser, sind effizienter, schneller und billiger." Die Sorge, die viele beim Thema KI haben, teilt er nicht. "Die Menschen werden in Zukunft endlich mehr Zeit für sinnstiftende Aufgaben haben." Eine Studie des World Economic Forum von 2018 geht davon aus, dass bis 2022 weltweit zwar 77 Millionen Jobs durch KI wegfallen, zugleich aber 133 Millionen Jobs neu entstehen.

Boos sieht diese Entwicklung positiv: "Je mehr wir uns der maschinentaug­lichen Tätigkeiten entledigen, umso mehr können wir uns um die wahren Pro­bleme kümmern: Erderwärmung, Ressourcenknappheit, Verhinderung von Kriegen." An diesen Themen arbeiten in seinen Augen heute immer noch viel zu wenige Menschen.

Sein Unternehmen Arago hat seinen Hauptsitz in Frankfurt. Bereits am Empfang weist ein großes Plakat den Besucher darauf hin, dass er nun eine "Asshole-free Company" betritt. Im ihrem Buch "Der Eliten- Report" haben die beiden Verfasser die Arbeitsmentalität bei Arago wie folgt geschildert: Die Mitarbeiter kommen, wann sie wollen (und bleiben dafür, solange sie müssen, bisweilen auch bis Mitternacht). Die meisten trudeln am späten Vormittag ein - ganz entspannt, ganz locker, in Jeans und verbeulten Sneakers. Ob sie vorher beim Yoga waren, geschlafen oder daheim gearbeitet haben, ist dem Chef egal. Er gibt nur die Ziele vor, die die Firma erreichen soll. Wie und wo seine Leute die Lösungen dafür finden, interessiert ihn nicht. Ein Studium braucht in seiner Firma niemand. Viele Mitarbeiter sind Autodidakten, genau wie der Boss selbst.

Der Mensch habe den Computern zwei Dinge voraus: Empathie und Kreativität. Zu beidem sei eine Maschine nicht fähig. Deshalb fordert Boos statt Programmierkursen mehr Universalbildung für die nächste Generation. In Zukunft werde die Elite aus kreativen Denkern mit breiter Allgemeinbildung bestehen, nicht aus Programmierern.

Er redet zudem gern über Kant und ­Shakespeare und plädiert dafür, Kinder den ganzen alten Kanon der klassischen Bildung lernen zu lassen, also Literatur, Geschichte, Philosophie, Musik, Kunst, Mathematik und Naturwissenschaften. Wenn mehr Menschen Geschichtsbücher genau studierten, wären wir politisch und gesellschaftlich nicht in der diffizilen Lage, in der wir uns aktuell befinden.

"In der Historie steckt die Zukunft", sagt Boos. Ein KI-Computer werde nie ein Künstler sein, auch kein Pionier oder Erfinder. Sicher gebe es Maschinen, die Bilder à la Rembrandt fertigen können. Aber das könnten sie nur, weil es vorher Rembrandt gegeben habe, den die Maschine jetzt eben nachmacht. Selbst einen Stil entwickeln oder den Kubismus erfinden, das könne die KI nicht.

Der Mensch Boos


Boos gilt als selbstbewusster Mann, der auffallen möchte. Er kleidet sich gern ganz in Schwarz: schwarze Lederjacke, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans mit goldenem Versace-Gürtel. Oft sieht man ihn in T-Shirts mit einem Mission State­ment, also einer Botschaft, etwa "Do epic shit" (Mach monumentalen Scheiß), "After real intelligence didn’t work for me, I’m using articifial" (Nachdem echte Intelligenz für mich nicht funktioniert hat, verwende ich künstliche) oder "Denken ist wie googeln, nur krasser". Grundsätzlich ist für ihn das Thema Maschinenintelligenz in Deutschland zu negativ und zu angstbesetzt. "Bisher hat jede industrielle Revolution mehr Arbeits­plätze geschaffen, als sie vernichtet hat. Die Chance der Digitalisierung ist, dass wir Menschen wieder Dinge tun, für die wir besonders geeignet sind, mit all unseren Talenten, die Maschinen nie erreichen werden und die uns deshalb auch Freude machen."