Herr Gabelli, was zeichnet einen erfolgreichen Value-Investor aus?


Ein zentrales Element ist Geduld. Sie müssen verstehen: Wenn Sie Aktien kaufen, kaufen Sie ein Stück eines Unternehmens. Sie müssen sich überlegen, was dieses Unternehmen wert ist. Der Markt - wir nennen ihn wegen seiner Launenhaftigkeit "Mr. Market" - kann über einen langen Zeitraum hinweg ganz andere Preisvorstellungen haben als Sie.

Geduld ist also das A und O?


Ja, in Kombination mit Wissen. Mein Wissen ist über viele Jahre hinweg gereift. Ich studierte im Hauptfach Finanzwissenschaft, Rechnungslegung im Nebenfach. Die Wertpapieranalyse erlernte ich nach der Methode der Professoren Benjamin Graham und David Dodd. Das war die Grundlage. Das Wissen über bestimmte Branchen ergibt sich dann im Lauf der Zeit. Ich folge der Pharma-, Auto- und Entertainmentbranche seit 40, 50 Jahren. Mit einem halben Jahrhundert Erfahrung können Sie den Wandel schneller nachempfinden. Wenn etwa die Börse - wie nach dem Brexit-Votum - über Nacht nachgibt, bietet Ihnen "Mr. Market" interessante Chancen. Dann müssen Sie wissen, bei welchen Unternehmen Sie zugreifen können.

Wie gehen Sie dabei vor?


Wir sammeln alle öffentlich zugänglichen Informationen. Anschließend fügen wir die Daten zusammen. Wir messen, interpretieren, diskutieren sie. Vor 70 Jahren versuchte man, Firmen zu finden, die man zum Kurs von zehn Dollar kaufen konnte, obwohl sie zwölf Dollar Cash je Aktie hatten. Es ging im Prinzip darum, Aktien zu finden, die unterhalb ihrer Nettovermögenswerte notieren. Das ist heutzutage kaum mehr möglich. Wir müssen deshalb versuchen, Firmen zu finden, die nach anderen Kriterien unterbewertet sind.

Nach welchen Kriterien?


Wir schauen auf den privaten Marktwert einer Firma. Das ist der Betrag, den Sie erhalten, wenn Sie das Unternehmen an einen Private-Equity-Investor oder strategischen Investor verkaufen würden. Die Differenz zwischen dem Börsenwert und dem privaten Marktwert ist unsere Ernte. Wir achten also nicht auf den Buchwert. Wir fragen uns, das Wievielfache des Cashflows - abzüglich Investitionen - außerhalb der Börse bei M & A-Transaktionen bezahlt würde.

Wenn ein börsennotiertes Unternehmen deutlich günstiger gehandelt wird als vergleichbare Konkurrenten außerhalb der Börse, liegt meistens etwas im Argen.


Deshalb machen wir uns Gedanken, welche Katalysatoren den Kurs in welche Richtung treiben könnten. Welchen Einfluss haben Inflation oder Deflation? Wie schnell wird das Ergebnis vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen wachsen? Stammen die Umsätze aus wiederkehrendem Abonnementgeschäft oder aus Einmaltransaktionen? Wenn Sie Zucker kaufen und der Preis nach oben schnellt, können Sie sehr viel Geld verdienen. Das ist ein schöner Katalysator, aber eben nicht beliebig wiederholbar. Wir würden deshalb für ein solches Geschäftsmodell weniger bezahlen als für einen TV-Sender mit festem Abonnentenstamm und gut prognostizierbaren Cashflows.

Deshalb halten Sie auch Aktien von E. W. Scripps?


Ich fing vor 50 Jahren an, in die Fernsehbranche zu investieren. Sie ist verzahnt mit den Verbraucherausgaben. Procter & Gamble, Unilever oder Reckitt steigern Umsatz und Gewinn, wenn die Wirtschaft wächst. In inflationären Zeiten können sie Preiserhöhungen gut durchsetzen und steigern dazu das Werbebudget. TV-Sender sind also recht inflationssicher.

Warum fiel die Wahl auf Scripps?


Scripps hat alle Zeitungen verkauft und dafür andere TV-Stationen übernommen. Der Cashflow aus dem laufenden Geschäft war 2015 schwach. Aber im ersten Halbjahr 2016 war er mit 100 Millionen Dollar so hoch wie seit 2012 nicht mehr. Und das zweite Halbjahr dürfte noch besser werden, weil außergewöhnliche Events wie die Olympischen Spiele und die US-Präsidentschaftswahlen für mehr Werbespots sorgen. Die Zusatzeinnahmen fließen in Aktienrückkäufe, was den Kurs absichern sollte. Folglich ist das Abwärtsrisiko limitiert. Das gefällt uns, weil bei nur 1,4 Milliarden Dollar Börsenwert nach oben einiges drin ist.



Wenn Sie Abomodelle und TV-Stationen mögen, müsste Ihnen Netflix auch liegen. Haben Sie den Rückschlag schon zum Einstieg genutzt?


Wir denken, Netflix ist ein Schnäppchen - für die Abonnenten, die nur 9,95 Dollar im Monat bezahlen. Die Aktie ist aber leider nicht für 9,95 Dollar zu haben.

Was haben Sie stattdessen aktuell auf dem Einkaufszettel?


Wir sehen uns sehr stark im Automobilsektor um. Wir mögen es, wenn Kurse übertrieben stark gefallen sind.

War der Kursrutsch bei Volkswagen wegen des Abgasskandals eine Übertreibung?


Wir finden Volkswagen zum aktuellen Preis attraktiv. Klar: Sie können in den USA kein Auto mit einem Defekt verkaufen, ganz gleich, ob es um die Umwelt oder um die Sicherheit geht. VW muss sich da durcharbeiten. Ob es zwei oder drei Jahre dauert, bis alles bereinigt ist, weiß ich nicht. Wir haben ein paar Stücke gekauft, allerdings ist es eine kleine Position. Eigentlich setzen wir lieber auf Zulieferer wie den italienischen Bremsenhersteller Brembo, mit dem wir unseren Einsatz verfünffacht haben.


Geschäftsmodell: Größter europäischer Automobilhersteller. Bewertung: Wegen des Skandals um manipulierte Abgaswerte und der Unsicherheit über die daraus resultierenden Strafzahlungen hat sich der Kurs glatt halbiert. Sofern die Schätzungen nicht noch drastisch reduziert werden müssen, ist die Aktie auf Basis des Kurs-Gewinn-Verhältnisses für 2017 sehr günstig bewertet. Gabelli rechnet damit, dass sich der Kurs auf Sicht von zwei bis drei Jahren erholt. Allerdings kann sich die Wartezeit, bis der Kurs wieder in Schwung kommt, deutlich verlängern, wenn die Strafen entsprechend hoch ausfallen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Aktie daher hochspekulativ.



Halten Sie noch weitere Aktien aus Europa im Portfolio?


Ja, zum Beispiel die Kabelfirma Millicom, die von einer Familie aus Stockholm gesteuert wird. Der Großvater der heutigen Chefin Cristina Stenbeck hat die Firma gegründet. Im operativen Geschäft konzentriert sich das Unternehmen auf Schwellenländer in Afrika und Lateinamerika. Es gibt Töchter in Guatemala, Nicaragua, Paraguay, Costa Rica. Das sind wachsende Märkte, sehr interessant für Kabel- und TV-Firmen. Die Aktie kostet unter 50 Euro, kann aber mehr wert werden.

Wo liegt Ihr Kursziel auf Sicht von zwei Jahren?


Bei 80 Dollar, also über 70 Euro.

Was halten Sie vom Ölsektor?


Vereinzelt finden wir interessante Unternehmen wie den Equipmentzulieferer Flowserve aus Texas - ein gut gemanagter Cashgenerierer. Wir hoffen, dass die Zahlen in den nächsten Quartalen wenig Anlass zum Jubeln geben, damit wir billig zukaufen können. Wir warten geduldig.

Gibt es noch weitere Aktien und Branchen, die Ihrer Meinung nach jetzt zum Einstieg locken?


Ein Feld, das wir seit 15 Jahren erfolgreich beackern, sind Versorger. Eigentlich mögen wir die Branche nicht. Sie wächst langsam, es ist wie ein Wettrennen der Schildkröten.

Warum investieren Sie trotzdem?


Weil die Branche konsolidiert. Allein im laufenden Jahr sind sieben Firmen übernommen worden. Ein Unternehmen, dem wir Potenzial zubilligen, ist Public New Mexico, kurz PNM. Strategisch wäre es sinnvoll, mit El Paso Electric oder einem anderen Branchenkollegen zu fusionieren. Wir glauben, sie werden sich über kurz oder lang mit einem Wettbewerber zusammenschließen. PNM zahlt eine schöne Dividende, die von Jahr zu Jahr steigt. Das versüßt die Wartezeit.



Ihre Präferenzen liegen demnach eindeutig bei Übernahme- und Fusionskandidaten?


Nicht nur. Eine Firma, die wohl eher nicht übernommen wird, ist Genuine Parts. Ich begleite das Unternehmen seit 1967, also seit fast 50 Jahren. Ich besuche sie regelmäßig in Atlanta, Georgia, um mit dem Management zu sprechen. Der neue Vorstandschef Paul Donahue ist erst der fünfte, glaube ich, in der über 80-jährigen Historie. Das zeugt von Kontinuität.

Warum ist ausgerechnet Genuine Parts kein Übernahmekandidat?


Das liegt an der besonderen Unternehmenskultur. Zum Beispiel zahlt Genuine Parts 100 Prozent der Steuern in den USA. Der einzige Deal, der diese Kultur bewahren könnte, wäre eine Übernahme durch Berkshire Hathaway. Aber daran glaube ich nicht, zumal das Unternehmen selbst eher auf der Käuferseite steht, wie Übernahmen in Neuseeland und Australien zeigen. Die Schulden sind trotzdem minimal. Es sind nur 500 Millionen Dollar - bei einem Ergebnis vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen von mehr als einer Milliarde Dollar. Die jährlichen Investitionen sind mit 100 Millionen Dollar gering. Dieses Jahr fallen sie etwas höher aus, weil einige neue Vertriebszentren gebaut werden. Aber das wird sich in Zukunft auszahlen.

Inwiefern?


Genuine Parts hat eine sehr gut geführte Logistiksparte, die davon profitiert. Wenn ein Versandhändler wie Amazon Logistikkapazitäten sucht, hat diese Firma Kompetenz darin.


Geschäftsmodell: In Nordamerika ist Genuine Parts (GPC) vor allem als Einzelhändler und Distributor von Autoersatzteilen bekannt. Das Unternehmen hat jedoch auch ein starkes Geschäft mit Industriekomponenten und eine florierende Logistiksparte. Bewertung: Da tendenziell die 215 Millionen Autos auf den Straßen der USA immer länger gefahren werden, benötigen sie auch mehr Ersatzteile. Daher ist die langfristige Investmentstory intakt. Kurzfristig litt das Unternehmen wegen der Zukäufe in Australien und Neuseeland unter der Schwäche der dortigen Währungen. Eine Erholung könnte den Gewinn beflügeln. GPC zahlt seit 50 Jahren ohne Unterbrechung Dividende.



A propos Amazon - wie stehen Sie zu der Aktie?


Wir sind vor fünf Jahren eingestiegen, haben aber danach nicht mehr zugekauft. Jeff Bezos leistet fantastische Arbeit. Die Cloud-Sparte ist interessant. Die Anzahl der Pakete, die die Leute bestellen, ist enorm. Die digitale Generation will alles geliefert bekommen. Die Welt ändert sich. Und Amazon ist ein Treiber des Wandels, aber mit 400 Milliarden Dollar Börsenwert eben mittlerweile auch gut bezahlt. Wir schauen uns deshalb lieber Firmen wie Genuine Parts an, die Amazon & Co Lagerhallen anbieten.

Fünf Jahre, 50 Jahre - wie lange halten Sie Ihre Aktien in der Regel?


Als geduldige Langfristinvestoren halten wir an unseren Positionen im Schnitt zehn Jahre fest.

In der Bronx aufgewachsen, zeichnete sich Mario Gabelli (heute 74) schon als Kind durch besonderen Fleiß aus. Er arbeitete in New Yorks Straßen als Schuhputzer und half auf dem Golfplatz als Caddy aus. Dort hörte er erstmals Banker über Aktien sprechen. Seitdem ist er für dieses Thema Feuer und Flamme. Mit 13 studierte er regelmäßig den Wirtschaftsteil der Zeitung und begann Aktien zu kaufen. Sein Unternehmen Gamco verwaltet heute rund 40 Milliarden US-Dollar. Gabellis Vermögen wird auf etwa 1,5 Milliarden Dollar geschätzt.