Die Ausschreitungen in den USA sind beunruhigend. Und man sollte mei­nen, dass dies einen eher negativen Effekt auf die Börsenentwicklung hat. Dem ist aber nicht so. Es geht weiter nach oben. Ungewöhnlich. Aber für alles, was an der Börse geschieht, gibt es ja eine passende Weisheit. Ebenso auch für das jeweilige Gegenteil.

Die zurückliegenden Wochen sind ein gutes Beispiel dafür: Wer Mitte März, als der DAX im regulären Handel auf fast 8000 Punkte fiel, "nicht ins fallende Mes­ser greifen" wollte, wird jetzt, im Juni vermutlich frustriert sein, angesichts der rund 4000 Punkte, die der deutsche Leit­index seither gestiegen ist. Anders dürfte es derweil den Mutigen gehen, die nach der gegenteiligen Weisheit handelten. Nämlich dann zu kaufen, "wenn die Kanonen donnern" - womit wir auch wieder bei den Unruhen in den USA wären.

Neben den bekannten Börsenweishei­ten gibt es genügend Argumente, die so­ wohl die Zögerlichen als auch die Mutigen in der aktuellen Lage anführen können. Wer den Einstieg verpasst hat, verweist darauf, dass die Covid­-Krise die Gewinnentwicklung der Unternehmen heftig be­einträchtigt und ein derartiges Kursplus wie zuletzt eigentlich nicht gerechtfertigt ist. Vermeintlich widerlegt wird dieses Argument dann von den Mutigen, die ins Feld führen, dass man niemals gegen die US-Fed wetten soll (oder gegen ande­re wichtige Notenbanken, wenn die den Geldhahn aufdrehen).

Der schizophrene Börsenbulle


Abseits von den immer passenden Weis­heiten und den ebenfalls immer irgend­ wie passenden Argumenten dafür oder dagegen ist der Kursanstieg aber auf jeden Fall eines: ungewöhnlich. Der unabhängi­ge US-Börsenanalyst Cam Hui nennt den Anstieg somit auch sehr treffend einen "Bullenmarkt mit den Eigenschaften ei­nes Bärenmarktes".

Dafür gibt es etliche Indizien. Normalerweise laufen in einem neuen bullishen Zyklus zunächst die Substanzwerte besser als die Wachstumswerte. Aktuell ist aber genau das Gegenteil der Fall. Gut zu sehen ist das an der Technologiebranche, vor allem der amerikanischen, die nach wie vor die Börsen-Hitliste dominiert. Als ob nichts gewesen wäre. Substanzwerte wie etwa Banken hinken hinterher - vor allem die europäischen. "Die Börsenrally der vergangenen drei Monate wurde vornehmlich von jenen Sektoren getragen, die ohnehin schon teuer waren - auf Basis des Kurs-Gewinn-Verhältnisses, während die billigen weiter gemieden wurden", schreibt die Fondsgesellschaft DWS in einer Analyse. Der entsprechende Börsenspruch dazu laute "cheap for a reason". Also billig aus gutem Grund.

Dass die Wachstumsaktien die Rally anführen, passt gut zu einer aktuellen Reuters-Umfrage unter 250 Börsenstrategen weltweit. Die ergab, dass 68 Prozent der Experten nicht glauben, dass die Tiefststände im März noch einmal erreicht werden. Eine V-förmige Erholung scheint jetzt also die Konsensansicht zu sein.

Zwei Jahre Wartezeit


Trotzdem muss man sich fragen, wie lange das so weitergeht, wenn links und rechts alles zusammenbricht und die ganze Wirtschaft darniederliegt. Und wenn die USA nach Schätzungen der DWS erst 2022 ihre Wirtschaftsleistung von 2019 wieder erreicht haben werden. Ein normaler Aufschwung ist das hier sicherlich nicht. Vielleicht muss das große Repertoire an Börsenweisheiten in diesem Jahr um eine neue ergänzt werden: Wette nicht gegen die Fed, und wette nicht gegen große Technologiewerte.

Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com