Biotechnologie an der Deutschen Börse: Das ist bis heute ein recht übersichtliches Segment. Mit dem Börsengang im Jahr 2000 zählt Medigene zwar zu den Veteranen der Branche, doch die Firma von heute hat mit der Medigene von damals nur wenig mehr als den Sitz im bayerischen Biotech-Mekka Martinsried bei München gemeinsam. Hinter der Verwandlung in ein reines Immunonkologie-Unternehmen, dessen Zelltherapietechnologie auch international von den ganz Großen der Branche aufmerksam beobachtet wird, steckt Vorstands- und Forschungschefin Dolores Schendel.

Im Interview erklärt die leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wie es dazu kam und welche Pläne sie für Medigenes Zukunft hat.

€uro am Sonntag: Frau Schendel, was hat Sie bewogen, nach einer langen und erfolgreichen akademischen Karriere, wo andere sich auf die Freizeit als Rentner freuen, eine Firma zu gründen?

Dolores Schendel:

Ich war davon überzeugt, dass wir wirklich ganz kurz davor stehen, Patienten helfen zu können. Man kann nicht vier Jahrzehnte auf ein Ziel hinarbeiten und dann alles fallen lassen. In der akademischen Forschung in Deutschland ist es aber so: Wenn der Leiter eines Instituts in Pension geht, dann ist die ganze Geschichte weg, die Forschung wird in der nächsten Generation nicht weiterverfolgt. Es wäre zwar möglich gewesen, meinen Mitarbeitern Projekte zu übergeben, aber die hätten sich damit woanders bewerben müssen. Das heißt, sie wären nicht unbedingt in eine solche Position gekommen, wie ich es war, wo sie wirklich etwas bewegen können. Es wäre also viel verloren gegangen. Das passiert in Deutschland immer wieder. Ich habe die Firma gegründet, um den nächsten Schritt wirklich zu probieren. Außerdem: Nur Rentnerin, das wäre mir auch zu langweilig gewesen.

Hatten Sie vorher jemals mit dem Gedanken gespielt, das akademische Umfeld zu verlassen, vielleicht in die Industrie zu gehen?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe auch lange mit Leuten diskutiert, ob ich diese Gründerrolle übernehmen soll oder nur beratend im Hintergrund stehe. Manchmal hat jemand sehr festgefahrene Ansichten und ist nicht flexibel genug, um Unternehmer zu sein. Das konnte ich schlecht einschätzen, ob ich so bin. Nach vielen Diskussionen und Gesprächen haben mir Menschen, die darin Erfahrung haben, geraten: "Die Firma braucht deine Leitung, deine Fähigkeit, Leute zu begeistern und natürlich deine Erfahrung auf dem Gebiet der Immunologie, um etwas Großes zu erreichen."

Andere schlagen diesen Weg eher in sehr jungem Alter ein.

Ja, das ist ein extrem interessanter Punkt, wann man sich entscheidet, Unternehmer zu werden, oder warum man sich traut! Wenn man jung ist, denkt man, jetzt habe ich eine heiße Idee, jetzt will ich ein Geschäft machen und vielleicht reich damit werden. Wenn man wie ich eigentlich schon eine Karriere abgeschlossen hat, dann ist es, glaube ich, nur die Passion, die einen treibt, ein Ziel zu erreichen oder die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ich scherze oft mit einem ebenfalls schon älteren Kollegen, dass wir "derisked" sind. Wir haben keine Agenda, wir müssen keine Familie ernähren. Uns treibt einfach eine innere Begeisterung. Parallel fiel die Unternehmensgründung einfach in eine glückliche Zeit.

Was meinen Sie damit?

Ich war in eine Umgebung integriert, wo dieser unternehmerische Aspekt eine Rolle spielte; ich hatte also Vorbilder. Ich habe früher an der Universität München in der Immunologie bei Gert Riethmüller gearbeitet, der die "BiTE"-Antikörper mitentwickelt hat. Daraus ist dann die Firma Micromet geworden, die 2012 für 1,03 Milliarden Euro von Amgen gekauft wurde. Das Helmholtz Zentrum, wo ich später das Institut für Molekulare Immunologie geleitet habe, hat immer unterstützt, dass wir Patente einreichen. Das macht man nicht ohne Gedanken an eine Anwendung. Und außerdem hat man damals einfach gesehen, dass es einen wissenschaftlichen Durchbruch in der Immuntherapie gibt.

Dieser Ansatz, das Immunsystem gegen Krebs zu mobilisieren, ist seit einigen Jahren das große Thema in der Medizin. Wann hat es bei Ihnen zum ersten Mal "klick" gemacht und Ihnen ist klar geworden, dass man mit T-Zell-Rezeptoren Krankheiten bekämpfen kann, wie Medigene es heute versucht?

Das ist schon sehr lange in meinen Gedanken präsent. Ich war am Anfang meiner Karriere am Sloan Kettering Institut in New York, wo man das Immunsystem im Zusammenhang mit Knochenmarktransplantationen erforscht hat. Früher dachte man ja, dass der heilende Effekt dieser Transplantationen bei Leukämie und Lymphomen so funktioniert: Chemotherapie und Bestrahlung töten die Tumorzellen bis zur letzten ab. Weil dabei das blutbildende System so stark geschädigt wird, muss man es danach durch ein Stammzelltransplantat ersetzen.

Dann ist man darauf gekommen, dass es in Wahrheit die T-Zellen des Spenders sind, die die letzten Krebszellen bekämpfen.

Als T-Zell-Immunologin denkt man da sofort: Wie kann ich das besser nutzen? Warum nicht gleich sehr spezifische T-Zellen anwenden, die Leukämie vollständig eliminieren, ohne dabei den ganzen Körper anzugreifen? Und so fängt man an zu überlegen: Wie komme ich an solche tumorspezifischen T-Zellen? Und wie kann ich sie außerhalb des menschlichen Körpers vermehren? Ich war eine der ersten, die einzelne T-Zellen im Labor isoliert und vermehrt haben. Dann ist die T-Zellstruktur bekannt geworden, und von da war es dann kein großer Sprung mehr zu der Idee, den T-Zell-Rezeptor zu verwenden.

Zell- und Gentherapien haben einen langen Weg hinter sich. Bei Medigenes Partner, der US-Firma Bluebird Bio, hat es 27 Jahre bis zur jetzt bevorstehenden Zulassung der ersten eigenen Gentherapie gedauert. Bei deutschen Anlegern hat man oft den Eindruck, sie erwarten am besten morgen die ersten Produkt­umsätze von Medigene. Verstehen US-Investoren Biotechnologie besser?

Ich glaube schon. Wir erleben da ein viel tieferes Verständnis für Wissenschaft und für diese Zeitrahmen. Wobei Bluebird ja auch nicht schon seit 27 Jahren an der Börse ist. Und man darf nicht vergessen, ich bin schon 40 Jahre in dieser Forschung tätig, ein Teil von dieser langen Wartezeit ist also schon rum (lacht). Und manche Rahmenbedingungen verbessern sich: Neuerdings erhalten einige Therapien nach nur einer Studie das Okay von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Aber es ist schon ein langer Prozess.

In den USA haben die Investoren nicht nur mehr Erfahrung mit Biotechnologie, sie legen dafür auch mehr Geld auf den Tisch. Warum sind Sie mit Medigene überhaupt in Deutschland?

Das ist eine wichtige Frage, die mir als gebürtiger Amerikanerin häufiger gestellt wird. Es stimmt, dass es viel schwieriger ist, die Kapitalmärkte in Deutschland anzuzapfen. Aber ich habe meine gesamte akademische Karriere hier in Deutschland verbracht. Der deutsche Steuerzahler hat diese Forschung über Jahre bezahlt. Die Ausgründung von Trianta im Oktober 2013 hat mehrere Leute aus meiner Forschungsgruppe integriert. Wir hatten zusammen 150 Jahre Erfahrung. Das schafft man nicht so ohne Weiteres neu. Für ein Start-up ist es viel einfacher, drei Bushaltestellen weiterzuziehen, als die Leute zu überzeugen, über den Atlantik zu ziehen. Es gab Medigene, es gab die Infrastruktur, die Laborflächen, Kenntnisse über Regulierung, Qualitätskon­trolle, Kontakte zu Behörden. Das war alles vorhanden. In den USA hätte ich bei null anfangen müssen. So haben wir in fünf Jahren zwei unterschiedliche Plattformtechnologien mit patienten­individueller, zertifizierter Herstellung in die Klinik gebracht und zwei große Businessdeals eingefädelt. Das ist eine ziemlich gute Leistung, finde ich.

Wäre es nicht trotz der langwierigen Entwicklung möglich, den Umsatz auch auf kurze Sicht zu steigern, etwa durch weitere Kooperationen?

Wir sind absolut offen für weitere Kooperationen. Wir haben schon Ansatzpunkte für die dritte oder vierte Generation von Produkten in unserer Pipeline. Die kann man aber nur schrittweise austesten, gleichzeitig müssen wir uns über einen längeren Zeitraum finanzieren. Bisher haben wir dafür hauptsächlich den Kapitalmarkt genutzt. Jetzt sind wir noch besser gerüstet für Businessdeals. Damit können wir mehr klinische Studien finanzieren und unsere Erfolgschancen steigern.

Warum geht es eigentlich bei Medigenes klinischen Studien, zum Beispiel mit MDG1011, so langsam voran?

Bei MDG1011 handelt es sich um die erste klinische T-Zell-Rezeptor-Studie in Deutschland, noch dazu von einem Unternehmen. Dafür die Genehmigung zu bekommen war für eine Firma unserer Größe eine enorme Anstrengung. Die Behörden mussten sich auf etwas völlig Neues einstellen. Die föderale Struktur in Deutschland macht alles noch viel komplizierter. In diesem Jahr möchten wir so viele Patienten wie möglich aufnehmen. Aber wie schnell das geht, ist unkalkulierbar, weil die Studienteilnehmer so viele Voraussetzungen erfüllen müssen. Um die Rekrutierung zu beschleunigen, eröffnen wir zu den inzwischen vier bestehenden Studienzentren gerade noch drei weitere.

Das am weitesten fortgeschrittene Produkt ist eine andere Immuntherapie mit dendritischen Zellen (DC-Vakzine). Wie sehen da die Pläne aus?

Wir suchen einen Partner, um noch größere Studien durchzuführen. Die Interimsdaten sahen gut aus, aber erst nach der gesamten Behandlungsdauer von zwei Jahren werden wir ein verlässlicheres Bild bekommen. Die letzte Behandlung ist Ende 2019, dann sind wir in der Lage zu entscheiden, wie es weitergeht. Parallel haben wir jetzt die Tür nach China geöffnet.

Sie meinen das Abkommen mit Cytovant, einer Tochter der US-Firma Roivant. Die will so etwas wie das Rocket Internet der Pharmabranche sein und gründet eine Tochterfirma nach der anderen. Finden Sie das vertrauenswürdig? Roivant hat überhaupt keinen Track Record.

Die Idee hinter Roivant ist, Assets zu sammeln, die Potenzial haben, aber bei ihren Erfindern keine Priorität haben. Die will Roivant dann möglichst schnell weiterentwickeln. Die Gruppe hat hierfür seit ihrer Gründung 2014 immerhin über drei Milliarden Dollar eingeworben und beschäftigt heute über 800 Mitarbeiter. In China gibt es einen riesigen Bedarf an innovativen Medikamenten. Wir sehen, dass große Pharmafirmen mit Zelltherapien nicht so leicht zurechtkommen. Kleine Biotechs sind schnell und flexibel, sie können besser damit umgehen. Deshalb hat Roivant Cytovant etabliert, die jetzt insgesamt drei T-Zell-Rezeptor-Therapien und die DC-Vakzine von uns für den asiatischen Raum lizenziert haben. Die Rechte für den Rest der Welt bleiben bei uns.

Und wann geht es los in China?

Wir glauben schnell, das ist schließlich das ganze Businessmodell. Aber die müssen natürlich auch erst die Infrastruktur schaffen. Das unterstützen wir auch mit unserem Know-how für die DC-Vakzine. Denn je mehr Studien und Daten es für unsere DC-Vakzine gibt, desto besser ist das auch für unser DC-Programm.

Die Hürden bei der Vermarktung von Zelltherapien scheinen vor allem in der Produktion und der Logistik zu liegen. Was kann eine kleine Medigene besser machen als zum Beispiel Novartis?

Wir haben entschieden, dass wir aktuell nicht in eine eigene zertifizierte Produktion investieren, weil es im Moment so viel Bewegung auf dem Markt gibt. Die große Frage ist, wie weit man die Herstellung automatisieren kann. Ich habe immer etwas übertrieben gesagt, ich möchte das McDonald’s der Zelltherapie sein. Preisgünstig, überall vertreten. Aber natürlich mit höchster Qualität. Ich denke da etwa an das Beispiel der Dialysezentren von Fresenius Medical Care. Automatisierung und kurze ­Distanzen sparen Kosten.

Aber glauben Sie wirklich, dass Roboter die Arbeit von hochspezialisiertem Personal übernehmen können? Noch dazu ist jede Patientenprobe anders.

Wir haben unsere T-Zell-Rezeptor-Entdeckungsplattform automatisiert, das war auch für viele schwer vorstellbar. Aber wir haben das hingekriegt und sind dadurch von 600 auf 145.000 Testungen im Jahr gekommen. Der Fortschritt auf dem Feld ist enorm: Dendreon, der Pionier bei DC-Vakzinen, brauchte für jede Infusion neues Material vom Patienten. Das ist für die Betroffenen eine sehr anstrengende Prozedur. Wir machen heute auf einen Schwung Zellen für die gesamte zweijährige Behandlungsdauer. So denken wir, auch bei komplizierter Zellkultur.

Vita:
Dolores Schendel
Die 1947 geborene Amerikanerin war Professorin für Immunologie an der Ludwig-Maximilians- Universität München und leitete das Institut für Molekulare Immunologie am Helmholtz Zentrum München. 2013 gründete sie Trianta Therapeutics, die 2014 von Medigene übernommen wurde. Schendel wurde unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Unternehmen:
Medigene
Die 1994 gegründe­te Münchner Firma (ISIN: DE 000 A1X 3W0 0) brachte mit Veregen das erste deutsche Biotech­medikament auf den US-Markt. Doch der große Durchbruch blieb aus. 2014 erfolgte mit der Übernahme von Trianta eine Neuausrichtung auf Immunonkologie. Medigenes Technologie ist sehr attraktiv, die Pipeline jedoch noch überschaubar und weit von der Kommerzialisierung entfernt.