"Ich bin nur ab und zu an der Börse aktiv und ziemlich sicherheitsorientiert. Zum Beispiel möchte ich mindestens meinen Einstandskurs wieder herausbekommen. Ein Bekannter, der mehr Erfahrung hat, hält dieses Vorgehen für einen großen Fehler. Ich sehe das nicht so. Mein Wunsch ist doch verständlich, oder?"

Wenn das Pferd tot ist, musst du absteigen!" - Richtig oder falsch? Diese Frage stelle ich immer wieder in meinen Vorträgen zur Verhaltensökonomie, und noch nie hat jemand dieser, den Dakota-Indianern zugeschriebenen Weisheit, widersprochen. Das Komische ist nur: Ich kenne jede Menge Anleger, die ganze - pardon - Herden "toter Pferde" in ihrem Portfolio haben und partout nicht absteigen, also ausmisten, wollen.

So werde ich auch heute noch, rund 19 Jahre nach dem Platzen der Technologie-, Medien- und Telekommunikationsblase, nach der einen oder anderen Aktie gefragt, die damals so chic war. Das Gespräch verläuft in etwa so: "Meinen Sie, ich sollte diese Aktie immer noch behalten?" Meine Antwort: "Das weiß ich nicht, ich verstehe nichts von Einzeltiteln und habe zu diesem Unternehmen auch wirklich keine Meinung." "Ja, aber Sie sind doch Experte. Meinen, Sie, dass ich sie behalten kann, oder sollte ich verkaufen?" Antwort: "Ich weiß das zwar noch immer nicht, aber was erwarten Sie in Zukunft davon?" - "Also vielen Dank, ich glaube, ich werde die Aktie behalten."

Was wie Slapstick klingt, ist leider ­Realität. Das Verhalten dahinter ist allzu menschlich und ist tief in unsere Verhaltensmuster eingebrannt. In der Verhaltensökonomie (dieser Wissenschaftszweig heißt auf Englisch Behavioral Finance) wird das der Ankereffekt genannt. Wir orientieren uns an einem "Anker", einem Einstiegskurs. Liegt die Kursentwicklung darunter, versuchen wir diesen Verlust zu vermeiden und warten auf eine Erholung. Zum Ankereffekt tritt die ­Verlustaversion. Ob die Erholung aber kommt, steht in den Sternen. Aber solange wir nicht verkaufen, ist es ja nur ein "Buchverlust - alles nicht so schlimm, also". Der Verlust scheint erst dann zum Verlust zu werden, wenn wir uns von dem Titel trennen. Das tut dann so richtig weh.

Unsere Gefühle sind ein schlechter Ratgeber und stehen der Ratio entgegen, denn rational wissen wir ja schon: Aktienkurse von einst sagen nichts über die Zukunft aus. Das Unternehmen kann sich ja in der Zwischenzeit komplett verändert haben. Seine Produkte können veraltet, seine Kunden zum Konkurrenten abgewandert oder neue, aggressive Wettbewerber können aufgetaucht sein.

Dass nicht nur wir uns so irrational verhalten, ist ein schwacher Trost. Wie die Zuflüsse bei Aktienfonds zeigen, haben sich die Anleger umso stärker aus dem Markt verabschiedet, je näher der DAX sich nach seinem Absturz zur Jahrtausendwende von oben der Marke von 6000 Punkten näherte - dem alten Hoch vor dem Platzen der Blase. Gerade die Privat­anleger sind in dieser Situation rausgegangen und haben den späteren Anstieg auf über 13 000 Indexpunkte komplett verpasst.

Übrigens: Hätten sich die Investoren aus der Lieblingsaktie der damaligen Zeit zum tiefsten Punkt, also mit dem höchstmöglichen Verlust, verabschiedet und auf einen Fonds mit Schwerpunkt auf den DAX umgesattelt, dann hätten sie ihr Kapital, je nach Einstiegszeitpunkt, vervier- oder verfünffacht. Es lohnt sich also, der Weisheit der Dakota-Indianer zu folgen.

Mein Tipp: Wer auf einzelne Titel setzt, muss deren Entwicklung kontinuierlich verfolgen und bereit sein, zumindest gelegentlich das Portfolio auszumisten, auch wenn es schwerfällt. Noch besser wäre es, gleich zu Beginn eine Strategie zu haben: Was muss passieren, damit ich meine Meinung ändere und die Aktien verkaufe - sei es, um Gewinne mitzunehmen, sei es, um Verluste zu begrenzen? Von welchen ­Alternativen erwarte ich mehr?

Ehrlich gesagt: Mir persönlich ist das zu mühsam. Ich überliste mich lieber selbst und investiere breit gestreut in für mich interessante Anlagesegmente und lasse mir die Einzeltitel darunter managen. Ich kenne ja meine Schwächen.

Hans-Jörg Naumer (52)


leitet seit 2000 die Abteilung Kapitalmärkte & Investmentthemen bei der Fondsgesellschaft Al­lianz Global Investors. Die Tochterfirma des Versicherers Allianz ist mit Anlagen von etwa einer halben Billion Euro einer der größten aktiven Vermögensverwalter der Welt. Sie hat ein Zentrum für Verhaltensökonomik in den USA, als dessen europäischer Brückenpfeiler sich ­Naumer versteht. Zuvor arbeitete der Volkswirt bei der französischen Großbank Société Générale.