DIE AUSGANGSLAGE



Was ist passiert?


Volkswagen hat Dieselmotoren des Typs EA (Entwicklungsauftrag) 189 mit einer speziellen Steuerungssoftware ausgestattet. Die Motoren der Baureihe EA 189 mit 1,6 und 2,0 Liter Hubraum sind zwischen 2008 und 2014 unter anderem in Fahrzeugen der Modellreihen VW Jetta, Passat, Golf, Beetle und dem Audi A3 eingesetzt. Insgesamt sind weltweit bis zu elf Millionen Fahrzeuge der Marken VW, Seat, Skoda und Audi mit Motoren des fraglichen Typs unterwegs, rund acht Millionen davon in Europa.
Die Schummel-Software sorgt dafür, dass der Motor auf dem Prüfstand die strengen US-Abgasvorschriften erfüllt. Im normalen Fahrbetrieb liegt der Schadstoff-Ausstoß jedoch zum Teil weit über den Grenzwerten. Damit hätte VW für die Motoren der Baureihe EA 189 keine US-Zulassung erhalten und auf dem wichtigen US-Markt auf verlorenem Posten gekämpft. Das wollte VW offenbar verhindern. Nun holen die Versäumnisse der Vergangenheit den Konzern und seine Anteilseigner ein.

Was werfen Kritiker Volkswagen im Abgas-Skandal juristisch vor?


Volkswagen hat Kunden mit den betroffenen Fahrzeugen ein Produkt verkauft, dessen tatsächliche Eigenschaften mit den im Kaufvertrag zugesagten Eigenschaften nicht übereinstimmen. Das ruft reihenweise Anwälte auf den Plan.
Außerdem werfen zahlreiche Anwälte dem Konzern einen Verstoß gegen die so genannte Ad-hoc-Publizitätspflicht vor. Laut Paragraf 37 b Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) ist ein börsennotiertes Unternehmen schadenersatzpflichtig, wenn es kursrelevante Informationen nicht unverzüglich veröffentlicht. Kursrelevant ist im Falle von Volkswagen nach Einschätzung zahlreicher Anwälte eben auch der Einsatz von Schummelsoftware in Motoren.

Wie hat die VW-Aktie reagiert?


Seit Bekanntwerden der Manipulation Mitte September hat sich der Kurs der im Dax notierten VW-Vorzugsaktie nahezu halbiert. Damit haben sich gut 30 Milliarden Euro in Luft aufgelöst. Das könnte man als Bestätigung für die These sehen, dass es sich beim Einsatz des Spezialprogramms zur Abgassteuerung um eine kursrelevante und damit veröffentlichungspflichtige Information gehandelt haben könnte.

Auf Seite 2: Wer kann überhaupt Schadenersatz-Ansprüche geltend machen?





DIE RECHTLICHEN VORAUSSETZUNGEN



Wer kann Schadenersatz-Ansprüche geltend machen?


Das kommt darauf an. Bei Käufern eines VW mit Murks-Motor könnten sich Forderungen auf Nachbesserung und eventuell Schadenersatz ergeben. Der neue Volkswagen-Chef Matthias Müller hat bereits angekündigt, die betroffenen Fahrzeuge ab Januar 2016 in die Werkstätten zurückzurufen und entsprechend nachzubessern.
Bei Anlegern kommen zunächst Schadenersatz-Ansprüche auf Grundlage des Wertpapier-Handelsgesetzes (WpHG) in Frage. Laut WpHG ist Voraussetzung für eine mögliche Schadenersatzpflicht, dass ein Anleger "die Finanzinstrumente", also etwa Aktien, erwirbt, nachdem eine Veröffentlichung einer kursrelevanten Information nötig gewesen wäre und sie zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Insiderinformation noch hält (§37b Abs. 1 Ziffer 1).
Darüber hinaus kommt im vorliegenden Fall zudem ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 826 BGB und nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 400 Aktiengesetz (AktG) in Betracht. Auf diese Normen können sich auch Anleger stützen, die ihre Aktien vor dem Bekanntwerden der Insiderinformation mit Verlust wieder veräußert haben.
Im konkreten Fall ginge es zumindest um den Zeitraum zwischen dem 29.10.2008 und dem 20.9.2015. Am 29.10.2008 hatte Volkswagen eine Pressemitteilung veröffentlicht mit der Überschrift: "Volkswagen im Fuel Economy Guide". Die amerikanische Umweltbehörde EPA habe den "Jetta TDI in die Top 10 der verbrauchs- und schadstoff-ärmsten Fahrzeuge aufgenommen", teilte der Konzern damals mit. Der Jetta Clean TDI habe die "strengen kalifornischen Schadstoffgrenzwerte" erfüllt, hieß es. Dabei klappte das offenbar nur dank der Schummelsoftware. Damit habe der Konzern öffentlich die Unwahrheit gesagt, kritisieren Juristen.
VW hatte am 3. September 2015 gegenüber der amerikanischen Umweltbehörde die Manipulation eingestanden. Am 20.9.2015 hatte der damalige Volkswagen-Chef Martin Winterkorn den Einsatz der Schummelsoftware auch öffentlich eingeräumt - und der Aktie damit den Boden weggezogen.

Greift die Schadenersatzpflicht auch für Anleger, die mit Derivaten auf VW Verluste erlitten haben?


Das ist unter Juristen umstritten. Anleger-Anwalt Andreas W. Tilp sieht einen Anspruch auch für Anleger, die mit Optionsscheinen oder Zertifikaten auf Volkswagen Miese gemacht haben. Ein solcher Anspruch sei juristisch "schwerer durchsetzbar, wenn überhaupt", sagt dagegen etwa Bernd Jochem, Spezialist für Kapitalmarktrecht bei der auf Kapitalmarktrecht spezialisierten Kanzlei Rotter.

Auf Seite 3: Was Anleger tun können





KONKRETE SCHRITTE



Was sollten Anleger im Falle eines möglichen Schadenersatz-Anspruchs tun?


Im Falle eines Verstoßes gegen die Ad-hoc-Publizitätspflicht müssen Anleger zunächst die Verjährungsfrist beachten. Sie beträgt ein Jahr und greift im Falle VW ab dem 18. September 2015. Ab diesem Stichtag bis zum 18. September 2016 müssen betroffene Anleger ihren Schaden geltend machen. Bei Klagen über 5000 Euro muss dies zwingend ebenso durch einen Rechtsanwalt geschehen wie bei der vereinfachten Anspruchsanmeldung nach § 10 Abs. 2 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG).

Greift im Falle des das Sammelklage-Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG)?


Das ist sehr wahrscheinlich. Das KapMuG soll geschädigten Anlegern im Rahmen von Musterverfahren helfen, ihre Schadensersatzansprüche leichter durchsetzen zu können. Voraussetzung dafür ist, dass die individuelle Anlageentscheidung auf falsche, irreführende oder unterlassene Kapitalmarktinformationen zurückgeht. Das können etwa fehlerhafte Jahresabschlüsse sein, unrichtige Angaben in Börsenprospekten - oder die verspätete Veröffentlichung kursrelevanter Sachverhalte.
Voraussetzung für die Eröffnung eines Sammelklage-Verfahrens ist, dass es mindestens zehn Schadenersatzverfahren gibt, die gleichlautende Tatsachen- und Rechtsfragen klären müssen. Dann kann das zuständige Oberlandesgericht (OLG) ein für alle anhängigen Kläger verbindliches und einheitliches Urteil fällen.
Im Falle von Volkswagen gibt es zahllose Anleger, die übereinstimmend einen Verstoß des Konzerns gegen die Publizitätspflicht sehen. Damit müsste das Landgericht Braunschweig nun zunächst entscheiden, ob es ein Sammelverfahren auf Basis des KapMuG herbeiführt. Sollte das der Fall sein, müsste das OLG Braunschweig in einem umfassenden Verfahren die grundsätzliche Rechtsfrage klären, ob VW tatsächlich gegen die Ad-hoc-Publizitätspflicht verstoßen hat.

Auf Seite 4: Welche Schadenersatz-Forderungen drohen VW in Deutschland?





DER MÖGLICHE FINANZIELLE SCHADEN FÜR VW



Wie groß könnten alleine in Deutschland die Schadenersatz-Forderungen von Aktionären sein?


Hier gibt es aktuell allenfalls grobe Schätzungen. Doch angesichts des Kurssturzes und der Tatsache, dass viele der betroffenen Anleger ihren Sitz in Deutschland haben, dürften Ansprüche in Milliardenhöhe, wie sie erfahrene Juristen aufrufen, nicht völlig aus der Luft gegriffen sein.

Welche finanzielle Belastung droht dem Volkswagen-Konzern insgesamt?


Der gesamte finanzielle Schaden aus dem Abgas-Skandal ist aktuell noch schwieriger einzuschätzen als der Schaden alleine Deutschland. Aber klar ist: Für VW wird es richtig, richtig teuer.
Das beginnt schon mit der Rückholaktion. Weltweit müssen rund elf Millionen Fahrzeuge mit dem fraglichen Motor der Baureihe EA 189 in die Werkstatt. Dort kriegen sie eine neue Software-Version verpasst. Außerdem müssen die Mechaniker bei einer der beiden Motor-Varianten auch noch an den Ventilen schrauben. Insgesamt hat Volkswagen für den Rückruf im laufenden Quartal schon mal 6,5 Milliarden Euro zurückgelegt und die Prognose fürs laufende Jahr kassiert.
Ein weiterer dicker Batzen dürfte für die Anwälte draufgehen. Alleine in den USA könnte so während des wohl jahrelangen Verfahrens locker ein dreistelliger Millionen-Betrag zusammen kommen.
Zudem wollen erste Länder bereits Subventionen für Dieselfahrzeuge zurück. So hat etwa Spanien eine Abwrackprämie beim Kauf schadstoffarmer Autos ausgezahlt. Im Falle VW sind die jetzt gar nicht so schadstoffarm. Jetzt muss VW wohl blechen.
Dazu kommen der schwer zu beziffernde Imageschaden, absehbare Absatzrückgänge und dann - und das dürfte wohl am teuersten werden - milliardenschwere Schadenersatzforderungen. In Deutschland, den USA, Österreich, Italien oder Australien werden Sammelklagen vorbereitet. Und das ist immer noch der Anfang. Im "schlimmsten Fall", schätzt JP Morgan, kostet das Diesel-Debakel den Konzern "40 Milliarden Euro". Der Konzern, warnte denn auch der neue VW-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch auf einer internen Veranstaltung laut Welt am Sonntag unlängst, sei in "einer existenzbedrohenden Krise".

Auf Seite 5: Wie lange könnte es dauern, bis der Schadenersatz auch tatsächlich auf dem Konto von Aktionären ist?





DIE MÖGLICHE VERFAHRENSDAUER



Wie lange könnte sich die Aufarbeitung des VW-Skandals juristisch hinziehen?
Sollte es tatsächlich zu einem Sammelverfahren vor dem OLG Braunschweig kommen, wäre eine Verfahrensdauer von drei bis vier Jahren durchaus üblich, sagt etwa Bernd Jochem von der Kanzlei Rotter. Je nach Urteil dürfte die unterlegene Partei den Bundesgerichtshof BGH in Karlsruhe anrufen, wo mit weiteren anderthalb bis zwei Jahren zu rechnen sei. In der Vergangenheit hat der BGH den Fall danach häufig an das OLG zurückverwiesen. Dann geht der Rechtsstreit zunächst dort weiter. Bis also tatsächlich ein abschließendes Urteil gefallen ist, können so zehn Jahre ins Land gehen.
Wenn die Schadenersatzpflicht nach diesem Gerichts-Ping-Pong tatsächlich bindend festgestellt worden sein sollte, müssen Anleger die Summe ihres individuellen Schadenersatzes aber noch vor dem LG Braunschweig, bei dem sie ihre Ursprungsklage eingereicht haben bzw. nach Anspruchsanmeldung noch einreichen müssen, auch tatsächlich durchsetzen.
Denn die Anspruchsanmeldung nach § 10 Abs. 2 KapMuG hemmt nur die Verjährung. Nach Rechtskraft des Musterentscheides müssen Anleger innerhalb von drei Monaten noch eine eigene, vollständige Klage einreichen, um Schadensersatz erlangen zu können. Immerhin: Hinsichtlich der vorgeworfenen Pflichtverletzungen können sie sich dabei auf den Musterentscheid berufen.

Auf Seite 6: Wie berechnet sich der entstandene Schaden?





DIE VARIANTEN ZUR BERECHNUNG DER SCHADENSHÖHE



Welche Varianten gibt es bei der Ermittlung des möglicherweise entstandenen Schadens?


Investoren haben beim Schaden die Wahl, die fraglichen Wertpapiere zurückzugeben und den gezahlten Kaufpreis bzw. die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis zu verlangen oder die Differenz zwischen dem Aktienkurs bei Erwerb und dem hypothetischen Kurs bei pflichtgemäßer Ad-hoc Mitteilung zu fordern (sog. Kursdifferenzschaden).
Beide Varianten sind allerdings keine Selbstläufer, warnt Rechtsanwalt Jochem: "Bei der ersten Variante müssen Investoren vor Gericht beweisen, dass sie die Aktien bei Kenntnis der Motoren-Manipulation nicht gekauft hätten, was wegen des teilweise lange zurückliegenden Kaufdatums häufig schon wegen der Erinnerungsmängel sehr schwer werden kann."
Bei der Variante des Kursdifferenzschadens ist dieser Nachweis nach Ansicht des BGH zwar nicht erforderlich, die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Berechnung der Schadenshöhe dürfte jedoch unumgänglich sein.

Fachliche Beratung Bernd Jochem, Rotter Rechtsanwälte, Kanzlei für Bank- und Kapitalmarktrecht, München