Die Corona-Krise bremst Firmen rund um den Globus aus. Der Fahrdienstvermittler Uber etwa kündigte jüngst wegen der Viruspandemie milliardenschwere Abschreibungen an und zog seine Jahresprognose zurück. Die Abwertungen in der Bilanz in Höhe von bis zu 2,2 Milliarden Dollar sind stärker als bislang angenommen und werden Uber zusätzlich belasten. Dabei stecken die Amerikaner ohnehin schon tief in den roten Zahlen. Im Schlussquartal 2019 hatte der Konzern ein Minus von 1,1 Milliarden Dollar verbucht. Dem Beispiel von Uber werden in den kommenden Wochen wohl noch viele Unternehmen folgen müssen - auch hierzulande ticken die Zeitbomben in den Bilanzen.

Deutschland steht vor einer schwerwiegenden Rezession. Das prognostizieren führende Wirtschaftsforscher. In ihrem Frühjahrsgutachten haben die fünf wichtigsten deutschen Institute für Wirtschaftsforschung die Aussichten für unser Land wegen der Corona-Krise neu berechnet. In diesem Jahr dürfte das Bruttoinlandsprodukt um 4,2 Prozent schrumpfen. Es wäre nach dem Jahr 2009, in dem die Wirtschaft hierzulande um 5,7 Prozent einbrach, die tiefste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Konkrete Voraussagen von Ökonomen über die weitere Entwicklung der Wirtschaft sind aktuell jedoch ähnlich verlässlich wie die Wettervorschau für den kommenden Winter.

Risiken für Unternehmen

Die Börse hat in den vergangenen Wochen bereits größere Einbußen der Wirtschaftsentwicklung und die entsprechenden Folgen für die Unternehmen und den Arbeitsmarkt eingepreist. Zunächst mit einem wohl übertriebenen Ausverkauf, der den DAX bis in die Nähe seines Buchwerts bei rund 8000 Punkten drückte. Nach der deutlichen Erholung in den vergangenen Wochen bewertet Deutschlands Börsenbarometer den Abschwung aktuell noch mit einem Kursabschlag von etwa 20 Prozent seit Jahresanfang und damit nicht allzu nachhaltig. Viele Börsianer sehen für das zweite Halbjahr, zumindest für das Schlussquartal, bereits eine Trendwende und wieder starkes Wachstum voraus. "Sobald eine Impfung gegen das Coronavirus möglich ist, besteht eine Chance, dass die Weltwirtschaft wieder zu normalen Bedingungen zurückfindet", glaubt Jörg Krämer, der Chefvolkswirt der Commerzbank.

Die wirtschaftlichen Folgen der Krise werden sich indes seiner Meinung nach noch langfristig bemerkbar machen. Eine zentrale Rolle werden hier die im Zuge der Krise aufgetürmten Schulden spielen. Viele Unternehmen werden deshalb weniger investieren und bei den Personalausgaben sparen. Diese machen im Durchschnitt etwa 60 Prozent aller Kosten aus. Das wiederum könnte die Erholung des privaten Verbrauchs belasten.

Aktionäre sollten zudem jetzt ein weiteres Risiko im Hinterkopf haben, das sich tief in den Bilanzen vieler Unternehmen verbirgt. Die Rede ist vom sogenannten Goodwill, einem Vermögensposten, der meist als Geschäfts- und Firmenwert betitelt wird und unscheinbar auf der Aktiv-Seite der Bilanz schlummert. Doch tatsächlich ist der Goodwill wie eine verborgene Zeitbombe, die schon lange tickt und durch die Corona-Krise in dem einen oder anderen Fall hochgehen könnte.

Der Goodwill ist ein immaterieller Wert, der sich aus Unternehmenszukäufen ergibt und die Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem Marktwert der erworbenen Netto-Vermögenswerte zum Kaufzeitpunkt beziffert. Die Höhe des Goodwill macht deutlich, wie viel Geld ein Unternehmen für eine übernommene Firma über den objektiv fairen Wert hinaus zu viel bezahlt hat. Für den Goodwill gibt es keinen materiellen Gegenwert, er spiegelt Werte wie Wachstumspotenzial, Synergien und Marktzugang wider. Im Prinzip sind es nur Hoffnungen. Erfüllen sich diese später nicht, muss ein Konzern den zu viel gezahlten Preis abschreiben. Das niedrige Zinsniveau hat Deutschlands größte Unternehmen in den vergangenen Jahren zu riskanten Übernahmen verleitet und in vielen Bilanzen den Goodwill mächtig aufgebläht. Kommt es jetzt durch die Krise zu Abschreibungen, drohen Verluste und rote Zahlen, im Extremfall kommt es sogar zur Überschuldung.

Hoher Goodwill im DAX

Um dieses Risiko für Anleger transparenter zu machen, hat BÖRSE ONLINE die Bilanzen aller DAX-Konzerne analysiert und auf ihre Geschäfts- und Firmenwerte hin untersucht. Das Ergebnis ist alarmierend. In den Bilanzen der 30 größten deutschen Unternehmen beträgt die Goodwill-Gesamtsumme aktuell über 317 Milliarden Euro, was eine Steigerung um mehr als 140 Milliarden Euro seit zehn Jahren bedeutet. Im Vergleich dazu sind die Abschreibungen winzig. 2019 schrieben alle 30 DAX-Konzerne insgesamt nur fünf Milliarden Euro ab. Dass von Unternehmensseite so wenig korrigiert wird, liegt auf der Hand: Abschreibungen drücken das Ergebnis, die Dividende, den Aktienkurs und oftmals auch die Vergütung der Manager. Sie sind das Eingeständnis des Vorstands, zu teuer gekauft zu haben. Und das schreibt sich nun mal kein Firmenchef gern auf die eigenen Fahnen.

Anhand der Relation von Goodwill zu Eigenkapital können Anleger schnell erkennen, in welchen Firmenbilanzen es in Zukunft brennen könnte. Denn je höher der Goodwill im Verhältnis zum Eigenkapital ist, desto stärker wirken sich Abschreibungen auf das Eigenkapital aus - und desto risikoreicher ist die Aktie. Der Goodwill in Deutschlands erster Börsenliga macht aktuell durchschnittlich 35 Prozent des Eigenkapitals aus. Dieses Verhältnis ist noch akzeptabel.

Doch im DAX gibt es zahlreiche Extremfälle: So weist etwa der Gesundheitskonzern Fresenius laut seinem Geschäftsbericht des Jahres 2019 einen Goodwill von 25,7 Milliarden Euro aus, das ist sogar mehr als das Eigenkapital in Höhe von 25 Milliarden Euro. Im Pharma- und IT-Sektor werden bei Akquisitionen allerdings tendenziell höhere Prämien bezahlt. Deshalb ist dort der Goodwill in der Regel höher als im klassischen Industrie- und Bankensektor. Der Goodwill von Fresenius ist zwar in den vergangenen drei Jahren stabil geblieben, hat sich seit 2005 dennoch mehr als verzehnfacht.

Für Fresenius-Chef Stephan Sturm ist klar: Übernahmen stärken sein Geschäft. Der Firmenlenker will deshalb schon bald wieder auf dem Markt zuschlagen. Zuletzt reagierte Sturm relativ gelassen auf die Krise - zumindest was die Entwicklung der Geschäfte angeht. "Unser Betrieb läuft weiter, unsere Produkte und Dienstleistungen werden mehr denn je gebraucht." Fresenius ist Europas größter privater Klinikbetreiber. Von 28 000 Intensivbetten stehen rund 1000 in den Helios Kliniken, einer Tochtergesellschaft. Derzeit sieht Fresenius keinen Grund für eine Korrektur für das laufende Geschäft - bleibt zu hoffen, dass dies auch für den Goodwill gilt.

Auch der Arznei- und Pflanzenschutzmittelhersteller Bayer kommt inzwischen auf einen Goodwill von 39,1 Milliarden Euro, der mehr als 83 Prozent des bilanziellen Eigenkapitals entspricht. Hauptgrund bei Bayer ist die Übernahme des US-Agrarkonzerns Monsanto, die die Leverkusener 2018 für 60 Milliarden Euro unter Dach und Fach brachten. Den Goodwill aus diesem Deal, also die Hoffnung auf Synergien, Wertsteigerung der Marke und hohe künftig generierbare Cashflows, hat Bayer nach langem Hin und Her mit 24 Milliarden Euro beziffert. Er ergibt sich aus dem Differenzbetrag des Kaufpreises und dem identifizierten Vermögen des amerikanischen Saatgutherstellers.

Noch immer laufen in den USA Rechtsstreitigkeiten um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat. Zuletzt ist es um das Thema zwar ruhiger geworden, vom Tisch ist es aber längst nicht. Welch teures Ei Vorstandschef Werner Baumann dem Konzern ins Nest gelegt hat, wird sich erst zeigen. Für Aktionäre bleibt zu hoffen, dass sich Erwartungen auf künftige Erträge von Monsanto erfüllen. Ansonsten könnte eine Abschreibungsbombe platzen.

Auch die Deutsche Post zählt im DAX zu den Unternehmen mit einem ungünstigen Goodwill-Eigenkapital-Verhältnis. 11,3 Milliarden Euro Goodwill stehen nur 14,4 Milliarden Euro Eigenkapital gegenüber. Firmenchef Frank Appel hat aus der schlichten Post von einst den globalen Logistikriesen DHL geformt, auch durch große Zukäufe vor allem im angelsächsischen Raum. Abgewertet wurde der Goodwill über die Jahre allerdings kaum. Das könnte sich angesichts der dünnen Eigenkapitaldecke in Krisenzeiten rächen und zu empfindlichen Einschnitten führen.

Beim erfolgsverwöhnten Softwarekonzern SAP ist das Verhältnis Goodwill zu Eigenkapital ebenfalls ungesund: Mit rund 30 Milliarden Euro sind beide Posten in der Bilanz annähernd gleich groß. Seit Jahren bauen die Walldorfer sukzessive Goodwill auf. Lag dieser im Jahr 2005 noch bei 627 Millionen Euro, hat er sich bis 2019 auf mehr als 29 Milliarden Euro aufgebläht. Auch SAP hat in den vergangenen Jahren viele Unternehmen übernommen. Zuletzt bezahlte der Konzern sieben Milliarden Euro für Qualtrics, einen Datensammler, der 2019 einen Umsatz von 500 Millionen Dollar erwirtschaftete. Sollten sich die Töchter und Beteiligungen nicht wie gewünscht entwickeln, könnten hohe Bereinigungen in der Bilanz noch folgen.

Corona-Krise macht Überprüfung nötig

Internationale Rechnungslegungsstandards verlangen, dass das Management eines Unternehmens den Goodwill mindestens einmal im Jahr auf Wertminderung überprüfen muss. Gibt es einen konkreten Anlass und entsprechende Indikationen, wie etwa jetzt durch den befürchteten Wirtschaftseinbruch wegen der Corona-Pandemie, müssen dieser sogenannte Impairment-Test und eine Überprüfung der Werthaltigkeit auf jeden Fall stattfinden. "Wenn nicht jetzt, wann dann?", fragt Kai Lehmann, Senior Research Analyst des Vermögensverwalters Flossbach von Storch. Sollte sich bei dieser Überprüfung herausstellen, dass der Buchwert des Goodwill den fairen Wert übersteigt, muss eine Wertminderung möglichst schnell vorgenommen werden. "Zum Ende des zweiten Quartals könnten die Ergebnisse bereits in den Bilanzen auftauchen", glaubt Alexander Himme, der als Professor an der Kühne Logistics University (KLU) in Hamburg die Grundsätze der internationalen Rechnungslegung und Bilanzierung lehrt.

Drückt sich ein Unternehmen vor der Überprüfung, kann das juristische Folgen haben. "Kommt der Wirtschaftsprüfer zum Jahresende zum Ergebnis, dass die Abschreibungen nicht vorgenommen wurden, macht sich das Unternehmen strafbar," sagt Himme. Laut Analyst Lehmann habe eine Wertberichtigung zwar keine direkte finanzielle Auswirkung, weil nichts bezahlt werde. Allerdings drücke die Abschreibung auf das Eigenkapital, meint der Analyst: "Die Bilanz wird schwächer, und die Refinanzierungskosten steigen."

Wie negativ sich eine Abwertung des Goodwill auf den Aktienkurs auswirken kann, zeigen einige Beispiele: Der amerikanische Ketchup-Hersteller Kraft Heinz etwa musste im Frühjahr 2019 mehr als 15 Milliarden Dollar abschreiben, daraufhin ging der Aktienkurs um über 30 Prozent in die Knie. Der japanische Industriekonzern Toshiba schrieb 2017 fast sechs Milliarden Euro auf das Atomgeschäft ab - danach brach die Aktie ein. Auch in Deutschland mussten zahlreiche Unternehmen, etwa die Deutsche Bank, Bilfinger oder Linde, in den vergangenen Jahren immer wieder mal unerwartet hohe Abschreibungen auf den Goodwill vornehmen - mit schmerzhaften Folgen für Aktionäre. Im März dieses Jahres traf es den Automobilzulieferer Continental, dessen Aktie nach milliardenschweren Abschreibungen unter die Räder kam.

Die aktuelle Corona-Krise macht Wertminderungstests für alle Goodwill-Zahlen zwingend erforderlich, denn die angenommenen Wachstumsraten und erwarteten Zahlungsströme vieler Übernahmen der Vergangenheit, die den Goodwill damals womöglich rechtfertigten, dürften zukünftig nicht mehr haltbar sein. Die aktuelle Situation ist mehr als brisant. Viele Konzerne haben nach ausschweifenden Übernahmetouren hohe Berge an Goodwill aufgetürmt, die nun einsturzgefährdet sind. Beispiel Eon bei Innogy. "Es war das erste Mal, dass ich gesehen habe, dass der Goodwill höher war als der Kaufpreis", sagt Lehmann. "Das lässt sich nur so erklären, dass die übernommenen Schulden größer waren als die Vermögenswerte." Das habe zu einem hohen Goodwill geführt. Letztlich hofft Eon darauf, dass die Synergieeffekte den Kaufpreis doch noch rechtfertigen.

Der International Accounting Standards Board (IASB), das maßgebende internationale Expertengremium, stellt Anpassungen in den Bilanzierungsregeln IFRS zur Diskussion, welche die Bilanzierungspraxis bei Übernahmen verbessern und Investoren helfen sollen, den Erfolg von Transaktionen besser einzuschätzen. Die Rückkehr zu einer planmäßigen Abschreibung von Goodwill in Unternehmensbilanzen wie vor 2004 wird es aber vorerst wohl nicht geben, doch der abverlangte Test auf Werthaltigkeit ist vielen Experten zu lasch. Selbst während der Finanzmarktkrise 2009 waren die aktivierten Werte deutscher Großkonzerne erstaunlich stabil geblieben. Das lag allerdings auch daran, dass die Zentralbanken parallel die Zinsen senkten, sodass die Nutzungswerte dank gesunkener Diskontierungsfaktoren stabilisiert wurden. Angepasste Impairment-Regeln sollen das zukünftig verhindern, doch für die aktuelle Krise könnten sie zu spät kommen.

Aktionäre müssen sich deshalb bei einigen Unternehmen wohl auf schlechte Nachrichten einstellen. Kommt es in absehbarer Zeit wegen der Corona-Krise zu Wertminderungstests, wird es bei Deutschlands größten Firmen Goodwill-Abschreibungen in Milliardenhöhe geben. Dies wiederum wird nicht nur die Gewinn- und Verlustrechnungen belasten, sondern zu einem drastischen Anstieg des Verschuldungsgrads und zu fallenden Kursen führen. Dann könnte sich rächen, dass viele Manager den Goodwill in der Vergangenheit nicht vorsichtiger bewertet haben.