Eigentlich dürften die Briten gar nicht mehr in der Europäischen Union sein. Der ursprüngliche Austrittstermin war auf den 29. März datiert. Und doch: Sie sind noch da. Aber wie lange noch? Premierministerin Theresa May beantragte, den Austritt auf den 30. Juni zu verschieben. Am Mittwoch reiste sie deswegen zu einem Sondergipfel nach Brüssel. Kommt bis Freitag keine Einigung zustande, droht der harte Austritt - also ein Ausscheiden ohne Vertrag. Führende Politiker rechnen derweil damit, dass einer weiteren Verschiebung zugestimmt wird.

Käme es dennoch tatsächlich zum groben Schnitt, sehen einige Experten die Börsenwelt selbst dann nicht so düster. So glaubt Joachim Schallmayer von der DekaBank, dass es wesentlich wichtigere Themen als die andauernde Diskussion um den Brexit gibt. Und auch Börsenexperte Dirk Müller meint, dass sich ein Austritt nicht gravierend auf die Märkte auswirken würde: "Die internationalen Börsen hängen im Wesentlichen von den US-amerikanischen Investorengeldern ab, und denen ist der Brexit leidlich egal." Lediglich für den Euro und die Londoner Börse könnte es ein paar Tage Bewegung geben, dann sei das Thema aber auch durch. Wenig dramatisch schätzt auch der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, die Situation ein. Ihn sorgen weniger die wirtschaftlichen als vielmehr die politischen Folgen: Das politische Klima könnte möglicherweise durch gegenseitige Schuldzuweisungen vergiftet werden.

Kahlschlag oder Neuabstimmung?

Andere Marktexperten warnen jedoch scharf vor einem ungeregelten Austritt. "Etliche Großkonzerne werden Kapazitäten aus Großbritannien abziehen und für einen herben Kahlschlag sorgen", sagt Andreas Lipkow von der Comdirect. Ein harter Brexit werde in einer ersten Reaktion auch zu Verwerfungen an den europäischen Märkten führen. Doch längst ist nicht geklärt, ob es überhaupt so weit kommt. So bandelt May aktuell mit der Oppositionspartei an. Und diese ist für einen sogenannten weichen Austritt. Bislang brachten die Gespräche mit Labour- Chef Jeremy Corbyn allerdings noch nicht den erhofften Erfolg.

Letztlich ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Briten über ihr Vorhaben noch mal komplett nachdenken. Börsenlegende Gottfried Heller sagte am Wochenende auf der Bühne des Finanzen Verlags bei der Anlegermesse Invest: "Ich glaube, dass es noch einmal zu einem Referendum kommt und möglicherweise die Sache wieder ganz begraben wird."

Für die weitere Entwicklung des DAX sind das nicht gerade die besten Voraussetzungen, die psychologisch wichtige Hürde bei 12 000 Punkten zu nehmen. Am vergangenen Freitag lugte er bereits kurz über die Marke, konnte sich jedoch nicht dort oben halten. Einige Unternehmensmeldungen stoppten den Höhenflug. So müssen die Autokonzerne wegen eines Kartellverfahrens Milliarden zurückstellen, SAP verliert innerhalb weniger Wochen einen weiteren Vorstand und bei Bayer drückt die Glyphosat-Klagewelle.

Doch sollte das kleine Minus im Leit-index nicht wirklich überraschen. In der vergangenen Woche legte der DAX schließlich um knapp 500 Punkte zu und erreichte damit den höchsten Stand seit Herbst 2018. Dennoch schauen Anleger, die in deutsche Titel investierten, wehmütig in die USA. Trotz des immer noch nicht ausgestandenen Handelskriegs mit China - aktuell gibt es mal wieder Annäherungstendenzen - klettert der Dow Jones nahe ans Allzeithoch. Von diesem ist der DAX noch meilenweit entfernt, ganz egal ob es zum harten Brexit kommt oder nicht.