Am 26. September ist Bundestagswahl - und der Ausgang ungewisser denn je. Große Koalition? Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün? Rot-Rot-Grün? Oder doch Jamaica? Welche Rolle spielt die AfD als aktuell größte Oppositionspartei? Fragen über Fragen. Gefühlt war die Unsicherheit noch nie so groß.

Zumindest, was die Börse betrifft, ist das so nicht richtig. Unsicherheit und Nervosität waren vor jeder Bundestagswahl zu beobachten. Und von diesem Phänomen können clevere Investoren durchaus profitieren, meint Strategietüftler André Stagge, ein ehemaliger Fondsmanager, der heute Privatanleger in die Geheimnisse der Börse einweiht.

Die Grundidee ist, dass im Vorfeld der Wahl fast immer unklar ist, welche Regierung an die Macht kommt und was das für die Wirtschaft bedeutet. Die Nervosität hält in der Regel noch in der Woche nach dem Urnengang an, weil das Gezerre während der Koalitionsverhandlungen auf die Stimmung der Börsianer drückt. Eine Woche später gehen die Investoren wieder zur Tagesordnung über und erinnern sich an die Redewendung "Politische Börsen haben kurze Beine".

Stagge hat deshalb das Verhalten des deutschen Aktienmarkts um die Bundestagswahlen seit 1961 untersucht und herausgefunden, dass die Börse durchaus Wahlgeschenke verteilt. Der Name für seine Strategie war damit schon gefunden. Als idealer Wende- oder Referenzpunkt stellte sich in der Rückrechnung tatsächlich der sechste Handelstag nach dem Wahltermin heraus. Die Unruhe am Aktienmarkt beginnt den Berechnungen zufolge sieben Wochen oder 35 Handelstage vor dem Wahltermin. Stagge: "Um von der Strategie Wahlgeschenk zu profitieren, setze ich 40 Handelstage vor meinem Referenzpunkt auf fallende Kurse im DAX und 40 Handelstage nach meinem Referenzpunkt bin ich für steigende Aktienkurse positioniert. Ich bin also genau 35 Handelstage vor der Wahl short."

Stichtag 9. August

Für die Umsetzung mit ETFs in diesem Jahr heißt das konkret: Man kauft am 9. August zur Handelseröffnung einen ShortDAX-ETF und hält diesen bis zum 1. Oktober kurz vor Börsenschluss. Am 4. Oktober wechselt man ins Bullenlager und kauft kurz nach Handelsbeginn einen normalen DAX-ETF, den man bis zum 26. November hält (eventuell auch länger, um die Jahresendrally mitzunehmen).

In der Rückrechnung bis 1961 brachte die Wahlgeschenk-Strategie an den untersuchten 80 Handelstagen im Schnitt einen Ertrag von 7,49 Prozent. Natürlich lässt sich das über gehebelte ETFs, Faktorzertifikate oder K.-o.-Produkte auch steigern. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die Trefferquote nur bei 62,5 Prozent liegt. Das ist für eine mechanische Handelsstrategie ein guter Wert, der ab der Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 fast makellos aussähe, gäbe es da nicht zwei Sonderfaktoren: 2009 befanden sich die Märkte weltweit in einer Erholungsphase nach dem Lehman-Crash, weshalb deutsche Aktien trotz der Wahl mit nach oben gezogen wurden. Die anfänglichen Verluste auf der Short-Seite konnten jedoch nach dem Wechsel in einen Long-ETF am Referenztag wettgemacht werden. 2017 wäre ein Verlust von 2,9 Prozent herausgekommen, was möglicherweise daran lag, dass sich die Koalitionsverhandlungen wesentlich länger hinzogen als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.

Zur höheren Trefferquote ab 1994 könnte auch beigetragen haben, dass die Bundestagswahl ab diesem Jahr wieder im Herbst stattfand. Durch das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt in den frühen 1980er-Jahren und den Mauerfall hatten sich die Termine 1983 (6. März), 1987 (25. Januar) und 1990 (2. Dezember) in eine Zeit verschoben, die nach dem Saisonalitätsmuster als gute Börsenphase gilt. Seit 1994 hingegen fallen die historisch schwachen Börsenmonate August und September wieder genau in die Phase, in der Stagge empfiehlt, auf sinkende Kurse zu setzen. Dass die Börsen in diesem Jahr bislang gut gelaufen sind, erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur im Spätsommer zusätzlich.

Das Wahlergebnis spielt für die Strategie übrigens keine Rolle. Stagge, der auch als Dozent tätig ist, zu seinen Studenten: "Ein Politikwechsel kann weitreichende Konsequenzen für die Wirtschaft haben. Die meisten Wahlversprechen werden aber nicht direkt in die Praxis umgesetzt. Häufig ist die Unsicherheit unbegründet, und es geht nach der Wahl weiter wie bisher." Dem ist nichts hinzuzufügen.