Von Gastautor Christophe Bernard

Betrachtet man ein Unternehmen, das über einen langen Zeitraum 10 Prozent Gewinnzuwachs pro Jahr erzielt, sind Kurs-Gewinn-Multiples (KGV) zwischen 40 und 50 theoretisch völlig gerechtfertigt. Auch ein Multiplikator von 100x kann richtig sein. Tesla mit seinem KGV von 600x gilt dagegen als der heutige Archetyp einer extremen spekulativen Vorwegnahme. Wer darauf setzt, dass sich hohe Bewertungen zukünftig zu ihrem langfristigen Mittel zurückbewegen oder umgekehrt eine Wertaufholung einsetzt, hat eine lange Durststrecke hinter sich. Seit über 13 Jahren hinken Value-Strategien gegenüber den Tech-lastigen Growth-Ansätzen nun schon hinterher und eine Umkehr scheint nicht in Sicht.

Empirische Überraschung



Auf die Frage nach dem einen fairen Unternehmenswert gibt es keine eindeutige Antwort. Generell setzt sich der faire Wert eines Geschäftsmodells aus Substanz, Gewinnentwicklung und Wachstumsperspektiven zusammen. Zudem "verdient" hohes Wachstum auch eine hohe Bewertung. Empirisch belegt gibt es aber eine Art psychologische Hürde: Die Mehrheit der Anleger würde auch bei stetig überdurchschnittlicher Wachstumserwartung für ein Unternehmen höchstens durchschnittlich 30 bis 35x als KGV tolerieren, selbst wenn eine objektive Kalkulation höhere Werte ermittelt.

Dieser Zusammenhang ist nicht linear, sondern zeigt eine Abflachung, je höher die unterstellten Wachstumsraten sind. Offensichtlich steigt die Skepsis der Anleger mit zunehmendem Gewinnwachstum. Für Fondsmanager ergibt sich daraus eine wichtige Erkenntnis, nämlich dass im Umkehrschluss das Potential für wachstumsstärkere Kohorten gegenüber den wachstumsschwächeren in den Aktienkursen notorisch unterschätzt wird.

Wachstumswerte mit strukturell höherem Potential


Unternehmen, deren Gewinne weit in der Zukunft liegen, investieren anfangs jeden Cent ihrer Einnahmen in Wachstum. Daraus resultierende niedrige Gewinne führen zu hohen KGVs. Die zukünftigen Wachstumsmöglichkeiten von relativ jungen Firmen wie Tesla oder Nvidia lassen sich besser bewerten, wenn man berechnet, wie viel am Jahresende übrig ist, um die expansive Strategie zu finanzieren. Das ist nicht der zu versteuernde Gewinn, sondern der Free Cashflow.

Zudem geht nicht jede gute Geschäftsidee auf. Die geplatzte Technologieblase vor zwanzig Jahren ist ein gutes Beispiel dafür. Damals war die Nutzung digitaler Innovationen kaum abzuschätzen. Inzwischen dominieren die ehemaligen Start-Ups Wirtschaft und Gesellschaft: Google, Amazon, Apple oder Facebook betreiben digitale Ökosysteme und erzielen exorbitant hohe Gewinne. Die digitale Transformation ist in vollem Gange und viele Trends noch lange nicht ausgereizt. Gleichwohl fällt es Anlegern schwer, diese unvoreingenommen zu bewerten.

Technologieunternehmen vorurteilsfrei bewerten


Beispielsweise ist Amazon mit seinem aktuellen KGV von etwa 80x eins der teureren Unternehmen im Nasdaq 100-Index. Jedoch steigert der Online-Händler seinen Umsatz jährlich um über 20 Prozent und ist so profitabel, dass er mit rund 200 Milliarden US-Dollar eingesetztem ökonomischem Kapital gut 40 Milliarden USD Free Cashflow erzielt. Diesen wiederum re-investiert der Konzern in neue rentable Projekte. Setzt man das aktuelle KGV ins Verhältnis zur Profitabilität, impliziert es einen zukünftigen Wachstumsrückgang auf 12%. Der enorme Free Cashflow ermöglicht es Amazon jedoch, tatsächlich seine überdurchschnittliche Gewinndynamik mindestens beizubehalten. Demnach würde das Kurspotential der Aktie eigentlich unterschätzt.

Innerhalb desselben Bezugsrahmens kommt man bei Tesla (ISIN US88160R1014) auf einen geschätzten Free Cashflow-Multiplikator von 61x - aber erst im Jahr 2025. Hier müssen Anleger sich eine Industrie im Umbruch fünf Jahre im Voraus denken, dabei zahlreiche Variablen rund um die Elektromobilität schätzen und eine Meinung zu den Produktionsmargen haben, um ein Bewertungsmodell anzuwenden. Gleichwohl handelt es sich um den bedeutendsten Herausforderer der traditionellen Autoindustrie, der die etablierten Konzerne schon seit Jahren vor sich hertreibt.

Differenzierte Analysewerkzeuge gefragt


Es mag derzeit bessere Investments als Tesla geben, aber die Beurteilung der Wachstumsperspektiven nach der Höhe des freien, re-investierbaren Cashflows bietet einen bewährten Bezugsrahmen für eine Einordnung auch solcher Unternehmen, die Teil komplexer Transformationsprozesse sind. Es existieren derzeit viele neue Anwendungen für den digitalen Übergang, wie beispielsweise Applikationen in die Cloud zu verlagern, Milliarden von Objekten zu verbinden, sie um Künstliche Intelligenz zu erweitern usw. Eine kurzfristig eintretende Sättigung der Gewinndynamik erscheint wenig wahrscheinlich. Anleger sollten in dieser Phase nicht auf eine Rückkehr zu historischen Durchschnitten warten, sondern sich an einer differenzierten Analyse des Free Cashflow, also dem Ertragsüberschuss über die Kapitalkosten, orientieren.


Über ValuAnalysis
ValuAnalysis ist eine unabhängige Investmentboutique, die von der Financial Conduct Authority autorisiert und reguliert wird und sich auf die Bewertung von börsennotierten Unternehmen spezialisiert hat. Die Firma hat ein proprietäres Analysemodell entwickelt, das Unternehmen identifiziert, deren Wettbewerbsvorteil und nachhaltiges Wertschöpfungspotential vom Markt unterschätzt werden.

Über Christophe Bernard
Christophe Bernard, Co-Portfoliomanager des UI ValuFocus Fonds (ISIN LU2079399270), verfügt über 28 Jahre Erfahrung im Assetmanagement und im Management von deutschen, europäischen und globalen Aktienportfolios, in denen er konsistent eine Überrendite gegenüber den jeweiligen Benchmarks erzielt hat. Bernard war während seiner Zeit bei der Deutschen Bank schon frühzeitig überzeugter Anwender der CROCI-Methodik, bevor er CIO-Positionen bei Vontobel und der UBP bekleidete.