Die deutschen Bundestagswahlen am 26. September 2021 könnten laut Credit Suisse Europa-Chefvolkswirt Neville Hill entscheidende Weichen für die Wirtschaftspolitik und die Märkte Europas stellen. Die Regionalwahlen in Sachsen-Anhalt vom vergangenen Wochenende markierten den letzten Urnengang vor der Abstimmung im September.

Meinungsumfragen signalisierten dabei eine große Verschiebung seit Jahresbeginn: Die Mitte-Rechts-Regierung der Unionsparteien Christlich Demokratische Union Deutschlands und Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU) habe ihre Unterstützung schwinden gesehen, während Bündnis 90/Die Grünen an Beliebtheit gewonnen hätten. Zu Beginn des Jahres habe die CDU/CSU in den Umfragen noch um über 15 Prozentpunkte vor den Grünen gelegen, nun lägen sie fast gleichauf.

Die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt waren laut Neville interessant: Im Vergleich zum Urnengang von 2016 und den Meinungsumfragen habe sich die CDU/CSU deutlich besser als erwartet geschlagen. Im Gegensatz dazu sei der Stimmenanteil der Grünen nahezu unverändert und hinter den Umfragewerten zurückgeblieben. Sachsen-Anhalt sei ein kleines Bundesland, weshalb Neville eher davon abrät, zu viel von diesem Ergebnis für die Wahlen im September zu extrapolieren. Es lege aber zumindest nahe, dass die CDU/CSU im Vergleich zu den aktuellen Umfragen etwas besser und die Grünen etwas schlechter abschneiden könnten.

Im Basisszenario geht die Credit Suisse davon aus, dass dies so sein wird. Der Ausgang der Bundestagswahl sei aber dennoch unsicher. Die CDU/CSU dürfte zwar am meisten Sitze gewinnen, dies garantiere jedoch nicht, dass die Unionsparteien zur Bildung einer Regierungskoalition in der Lage sein werden. Die Tabelle zeigt aus Sicht von Credit Suisse die subjektiven Schätzungen der Wahrscheinlichkeiten verschiedener Koalitionen, die nach den Wahlen gebildet werden könnten.

Demnach beläuft sich die Wahrscheinlichkeit, dass die CDU/CSU an der Spitze der nächsten Regierung stehen wird, auf rund 60 Prozent, während eine Regierungskoalition unter Führung der Grünen auf 40 Prozent kommt. Abhängig vom Abschneiden der Mitte-Links angesiedelten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) könnten sich den Grünen rechnerisch mehr Möglichkeiten zur Bildung einer Koalition bieten als der CDU/CSU.

In Deutschland habe die CDU/CSU in den letzten 16 Jahren an der Spitze der Regierung gestanden. Dabei hätten die Unionsparteien in Bezug auf die Haushaltspolitik und die Integration in die Europäische Union (EU) einen mehrheitlich konservativen Ansatz verfolgt. Eine Koalition der CDU/CSU mit den Grünen als Juniorpartner würde weitgehende Kontinuität mit allenfalls kleinen Anpassungen bedeuten. Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet habe politische Instinkte, die jenen von Kanzlerin Angela Merkel ähnelten.

Demgegenüber würde eine Bundesregierung unter grüner Führung substanzielle Veränderungen für die Wirtschaft und die europäischen Märkte mit sich bringen, wie beispielsweise folgende: voraussichtlich weniger konservative fiskalische Ausrichtung auf Ebene Deutschlands und der EU; höhere staatliche Investitionen, mit Fokus auf eine Dekarbonisierung; höhere Steuern, insbesondere auf hohen Einkommen, Vermögen und Kapital; und weitere Fortschritte auf dem Weg zur fiskalischen und politischen Integration innerhalb der EU.

Fazit: Eine Regierung unter Führung der Grünen würde nach Einschätzung der Credit Suisse mit höheren Wachstumserwartungen für Deutschland und die Eurozone in den nächsten Jahren einhergehen und könnte einen weiteren Rückgang der Risikoaufschläge von Vermögenswerten aus peripheren Ländern der Eurozone bewirken.



Die potenziellen Folgen einer Koalition unter grüner Führung



In ihrem Basisszenario gehen die Ökonomen der Credit Suisse wie skizziert davon aus, dass die deutschen Bundestagswahlen in eine von der Christlich Demokratischen Union Deutschlands und der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CDU/CSU) geführte Koalition unter Beteiligung der Grünen münden wird. Man erwartet für diesen Fall eine nur verhaltene Marktreaktion und man konzentriert sich daher in der Analyse auf ein Szenario, in dem das Bündnis 90/Die Grünen nicht nur an der Koalition beteiligt ist, sondern diese anführt.

In den beiden Szenarios einer Koalition unter Führung der CDU/CSU oder der Grünen rechnet man unverändert mit einer Outperformance deutscher Aktien, weil diese zyklischer Natur und ansprechend bewertet seien und sich ihre Fundamentaldaten verbesserten. Man erwartet für den Fall einer neuen Koalition unter grüner Führung diverse (potenzielle) Konsequenzen, wie beispielsweise:

- weniger konservative fiskalische Ausrichtung (zum Beispiel bezüglich der verfassungsmäßigen Schuldenbremse) und Erhöhung der Haushaltsausgaben (um 50 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts, beispielsweise für Investitionen in die Bahninfrastruktur und den öffentlichen Verkehr. - einer Intensivierung der Maßnahmen gegen den Klimawandel (mit dem Ziel, den Treibhausgasausstoß bis 2030 um 70 Prozent zu senken, beispielsweise mittels höherer CO2-Steuern). - einer Erhöhung der Steuern, insbesondere auf hohen Einkommen, Vermögen und Kapitalgewinnen. - einer Verschärfung der Regulierungsvorschriften (z.B. Mietendeckel im Wohnsektor). - einer Erhöhung der Mindestlöhne. Einer verstärkten europäischen Integration (fiskalisch und politisch), beispielsweise durch eine Umwandlung des Wiederaufbaufonds in ein permanentes Haushalts- und Investitionsinstrument.

Potenzielle Folgen einer deutschen Wahlüberraschung auf Euro und Anleihen



Die von den Grünen anvisierte Erhöhung der Haushaltsausgaben würde wahrscheinlich das Wirtschaftswachstum Deutschlands ankurbeln sowie den Renditen von Bundesanleihen und - zu einem gewissen Grad - auch dem Euro Unterstützung bieten, so die Credit Suisse.

Eine erwartete Lockerung der europäischen Budgetregeln und die Umwandlung des Wiederaufbaufonds der Europäischen Union (EU) in ein permanentes haushaltspolitisches Instrument würden darüber hinaus der fiskalischen Integration in Europa Vorschub leisten und damit die Risiken eines «Auseinanderbrechens» der Eurozone mindern. Dadurch könnte sich wiederum der Abwärtsdruck auf die Kreditrisikoaufschläge (Spreads) der Anleihen gewisser peripherer Euro-Länder (wie Italien oder Spanien) relativ zu deutschen Bundesanleihen etwas erhöhen.

Des Weiteren würden wahrscheinlich vermehrt grüne Anleihen begeben, um die geplante Ausgabenerhöhung zu finanzieren. Diese zusätzlichen Emissionen von Schuldtiteln sollten zu einer besseren Verfügbarkeit von auf Euro lautenden sicheren Vermögenswerten beitragen, zumal sie im Rahmen eines gemeinsamen EU-Emissionsrahmens erfolgen und damit eine Vergemeinschaftung der Schulden vorantreiben würden.

Dieses zusätzliche Angebot an hoch eingestuften Anleihen würde die Attraktivität von Euro-Verbindlichkeiten für die Manager von Devisenreserven erhöhen und möglicherweise zu einer bedeutenderen Rolle des Euro als internationale Reservewährung beitragen. Allgemein würde das Ausmaß der vorstehend erläuterten Auswirkungen auf die Zinsen und den Devisenmarkt indessen davon abhängen, ob und wie stark die Koalitionspartner die Pläne der Grünen beschränken würden.

Potenzielle Folgen einer deutschen Wahlüberraschung auf Branchen-Ebene



Die zuvor skizzierten politischen Maßnahmen einer neuen Koalition unter grüner Führung würden nach Erachten der Credit Suisse diversen deutschen Aktiensektoren Unterstützung bieten. Die Erhöhung der Haushaltsausgaben käme der Ausrüstungsgüterbranche zugute, also etwa Unternehmen, die von höheren Infrastrukturausgaben profitieren.

Unternehmen mit Exposure gegenüber erneuerbaren Energien könnten von einer Intensivierung der Maßnahmen gegen den Klimawandel, beispielsweise in Form höherer Investitionen durch die öffentliche Hand, profitieren.

Autohersteller mit robustem Elektrofahrzeuggeschäft könnten ebenfalls zu den Nutznießern einer verschärften Klimagesetzgebung zählen, strebten die Grünen doch eine Reduktion des Treibhausgasausstoßes um 70 Prozent bis 2030 an. Und zu guter Letzt sieht man auch Bahnunternehmen als Nutznießer einer grün geführten Koalition, zumal diese sowohl die Infrastrukturinvestitionen als auch die CO2-Steuern erhöhen dürfte.

Abgesehen davon erkennt die Schweizer Großbank aber in einem Szenario mit Koalition unter Führung der Grünen auch gewisse Sektoren, die sich mit Herausforderungen konfrontiert sähen. Fluggesellschaften und Flughafenbetreiber könnten durch verschärfte Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel, wie beispielsweise höhere CO2-Steuern, in Mitleidenschaft gezogen werden.

Steigende Mindestlöhne wären demnach negativ für Unternehmen, die einen relativ großen Teil ihrer Arbeitskräfte mit Minimallöhnen entschädigten. Eine verschärfte Regulierung und eine Senkung der Militärausgaben könnten zudem Verteidigungsunternehmen zum Nachteil gereichen. Striktere Gesetze im Immobiliensektor, wie zum Beispiel ein Mietendeckel, stellten derweil ein Risiko für deutsche Real Estate Investment Trusts (REITs) dar.

Aktienideen bei einer Regierung unter Grünen-Führung



Basierend auf den angestellten Überlegungen zur bevorstehenden Bundestagswahl präsentiert die Credit Suisse auch einige deutsche Aktien, die sich nach hauseigener Einschätzung in einem Szenario mit einer neuen Regierung unter Führung der Grünen oder der Unionsparteien CDU/CSU gut entwickeln sollten.

Eine Bundesregierung unter Führung der Grünen würde den Erwartungen von Aktienanalyst Reto Hess zufolge Unternehmen zugutekommen, die gegenüber höheren Infrastrukturausgaben insbesondere für den öffentlichen Verkehr und Elektrofahrzeuge exponiert sind. Den Angaben zufolge sind Alstom, Siemens und Volkswagen in dieser Hinsicht gut positioniert.

Nun, da die Übernahme von Bombardier Transportation (BT) vollständig abgeschlossen ist, sei Alstom die klare Nummer eins unter den europäischen Anbietern von Bahninfrastruktur und folglich gut aufgestellt, um am Wachstum dieses Sektors teilzuhaben. Nach Meinung von Hess werden Eisenbahnen zu den strukturellen Nutznießern eines mit Staatsgeldern geförderten grünen Transportsystems zählen, wobei die Branche mit einem nachhaltigen langfristigen Wachstum von fünf Prozent aufwarten dürfte. Da Alstom im Geschäft mit wasserstoffbetriebenen Zügen solide positioniert sei, sollte das Unternehmen stärker expandieren können als die Gesamtbranche.



Siemens besteche durch ein substanzielles Engagement im Infrastrukturbereich, insbesondere mit seinen Geschäftsfeldern Siemens Mobility (SMO) und Smart Infrastructure (SI). SMO bietet Rollmaterial, Bahn- und Straßeninfrastruktur sowie schlüsselfertige Bahnprojekte an, während SI unter anderem Strom-Vertriebssysteme und digitale Netzlösungen im Angebot hat. SI sollte seine Margen nach Erachten der Credit Suisse steigern können, was restrukturierungsbedingten Einsparungen und Investitionen in Grid-Edge-Technologien, einer Reduktion der Kosten für zentrale Funktionen sowie einer weiteren Verbesserung der Portfoliounternehmen zu verdanken sei.



Volkswagen verfolge im Geschäft mit Elektrofahrzeugen (EVs) eine kühne Strategie, sei das Unternehmen doch einer der ersten traditionellen Autohersteller, der eine dedizierte EV-Plattform aufbaut sowie selbst Batterien fertigt und entsprechende Software entwickele. Seine EV-Ziele seien ambitioniert: Bis 2030 sollen 70 EV-Modelle lanciert werden, und reine batteriebetriebene Elektroautos sollen bis 2030 einen Anteil von 60 Prozent an den Auslieferungen in Europa haben. Volkswagen würde zu den Hauptnutznießern einer von den Grünen angeführten Koalition gehören, zumal diese dem EV-Sektor direkt mehr Stimuli zufließen lassen könnte.



Aktienidee bei einer Regierung unter Führung der CDU/CSU



Im Basisszenario mit einer Koalition unter Führung der CDU/CSU rechnet man mit einer nur verhaltenen Marktreaktion. Ein Bereich, für den eine gewisse Entlastung resultieren könnte, sei der Immobiliensektor, zumal eine neue Bundesregierung die Regulierung im Wohnungsmarkt wohl nicht verschärfen würde, insbesondere nicht in Hinblick auf eine potenzielle Begrenzung der Mieten. Vonovia sei der größte Wohnungsvermieter Deutschlands und verfüge auch in größeren Städten in ganz Europa über Mietimmobilien. Im Zuge der jüngsten Übernahme von Deutsche Wohnen habe sich Vonovias Exposure gegenüber Berlin erhöht.

Wohnimmobiliengesellschaften stünden unter Druck, seit dort Anfang 2020 vermehrt über den gesetzlichen Mietendeckel diskutiert worden sei. Obwohl das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel mittlerweile gekippt habe, werde vor dem Hintergrund der nahenden Bundestagswahlen in Deutschland weiterhin über Mietbegrenzungen spekuliert und diskutiert.

Man erwartet, dass Vonovia im Falle eines Siegs der CDU/CSU-Koalition zu den Nutznießern gehören würde, zumal die Unionsparteien Mietbegrenzungen schon immer abgelehnt hätten. In diesem Szenario wäre das Potenzial für eine Rückkehr der Mieten auf frühere Niveaus für Vonovia größer. Zudem böte sich möglicherweise die Option, die Mieteinbußen im Zusammenhang mit dem Berlin-Exposure von Deutsche Wohnen nachzufordern.



Hinweis: Bei den Anlageurteilen zu den besprochenen Aktien handelt es sich um Empfehlungen des zitierten Research-Instituts. Die Meinung der dortigen Analysten kann, aber muss sich nicht mit den jeweiligen Einschätzungen der BÖRSE ONLINE-Redaktion decken.