Die VW-Dieselaffäre ist um ein weiteres Kapitel reicher - und ein Schlusspunkt noch lange nicht in Sicht. Fast fünf Jahre nach Bekanntwerden des Abgasskandals gibt es ein erstes höchstrichterliches Urteil. Der Bundesgerichtshof (BGH) verkündete am Montag, dass sich der Autohersteller VW der "vorsätzlichen, sittenwidrigen Schädigung" schuldig gemacht hat. Somit steht fest: Der Konzern muss klagenden Dieselbesitzern Schadenersatz zahlen. Die Kunden können ihr Fahrzeug zurückgeben und den Kaufpreis teilweise zurückverlangen - oder ihr Auto behalten und eine Entschädigung kassieren.

Verhandelt wurde vor dem BGH der Fall von Kläger Herbert Gilbert. Er hatte 2014 einen gebrauchten VW Sharan mit dem Dieselmotor EA 189 für knapp 31.500 Euro gekauft. Vor allem weil VW diesen als besonders umweltfreundlich beworben hatte, wie Gilbert betont. Ein Jahr später wurde bekannt, dass der Wagen die Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhält und nicht auf der Straße. Gilbert fühlte sich getäuscht. Er klagte.

Endlich Rechtssicherheit


Die Karlsruher Richter gaben Gilbert in weiten Teilen Recht. Wichtigster Punkt: Allein durch den Kauf eines manipulierten Dieselfahrzeugs hat Gilbert Anspruch auf Schadenersatz in Höhe von über 28.000 Euro. Die Summe setzt sich aus der abgezogenen Nutzungsleistung (für die gefahrenen Kilometer) und den Zinsen für den Kaufpreis zusammen.

Zur Begründung führte der BGH aus: Der Wolfsburger DAX-Konzern habe durch bewusste Täuschung die Fahrzeuge in hoher Stückzahl in den Verkehr gebracht. Der Schaden des Käufers bestehe darin, dass er bei Kenntnis der Abschalteinrichtung den Kaufvertrag nicht geschlossen hätte. Das Problem sei auch durch ein späteres Software-Update des Diesel-Motors nicht gelöst worden.

Das Urteil des BGH dient als Richtschnur für mehr als 60.000 laufende Verfahren gegen VW bei Land- und Oberlandesgerichten. Bisher war die Frage, ob VW Schadenersatz schuldet, häufig unterschiedlich beantwortet worden.

Claus Goldenstein, dessen Kanzlei Goldenstein & Partner für den Fall verantwortlich ist, kommentiert: "Das Urteil bedeutet Rechtssicherheit für Millionen Verbraucher in Deutschland und zeigt einmal mehr, dass auch ein großer Konzern nicht über dem Gesetz steht."

VW kündigte an, verbleibenden Klägern Einmalzahlungen anzubieten. Man werde mit entsprechenden Vorschlägen auf die Kunden zugehen, erklärte der Konzern. Einmalzahlungen seien eine "pragmatische und einfache Lösung". Die Höhe der Angebote hänge vom Einzelfall ab. VW bezeichnete die Karlsruher Entscheidung als "Schlusspunkt".

Neue Klagewelle droht


Das sehen viele Experten allerdings anders: Denn der Dieselskandal könnte sich für VW noch ausweiten. Christoph Lindner, Rechtsanwalt aus Rosenheim, erwartet beispielsweise, dass die Klagebereitschaft der Verbraucher, sowie auch die Zahlungsbereitschaft der Rechtsschutzversicherer steigen werden. Auch gäbe es neue Verdachtsfälle, dass VW bei weiteren Fahrzeugmodellen getrickst habe - etwa bei den beliebten VW-Bussen (Motor EA288). "Wir erwarten definitiv eine neue Klagewelle", betont Lindner.

In den nächsten Wochen wird zudem ein weiteres wegweisendes Urteil erwartet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet über die Zulässigkeit von sogenannten Thermofenstern. In einem ersten Gutachten kam die Generalanwältin zu der Einschätzung, dass diese rechtswidrig sein könnten. Sollten die europäischen Richter zu der gleichen Entscheidung kommen, drohen abermals tausende neue Klagen - nicht nur gegen VW, sondern auch gegen andere Autohersteller wie etwa Daimler oder BMW. Rechtsanwalt Goldenstein erklärte gegenüber BÖRSE ONLINE: "Das EuGH-Urteil könnte von noch größerer Bedeutung sein als das BGH-Urteil, weil im Großteil der aktuell benutzten Dieselautos in Deutschland Thermofenster verbaut sind."