von Robert Halver

Wer 2016 den Gestank neuer Finanzkrisen zulässt, hat aus den Stinkbomben von 2008 nichts gelernt



Auf die aktuelle Anlegerstimmung passt das Bild der gerade angebrochenen Fastenzeit. So mancher Anleger fühlt sich sogar an das Schicksalsjahr der Finanzwelt 2008 erinnert. Kommt es 2016 wieder genauso heftig? Damals kam es zur bis dato größten Krise des Finanzsystems, als zunächst die Immobilienblase platzte, dann die Finanzmärkte und schließlich die Weltkonjunktur einbrachen.

Mit dramatischer Neuverschuldung konnten sich die Banken und die Weltwirtschaft wieder fangen. Doch die Refinanzierung der staatlichen Stützungspakete war den Staaten nicht mehr möglich. Mit Leitzinsen von quasi Null, Renditedrückungen zur günstigeren Schuldenfinanzierung und schließlich dem Aufkauf von Schulden, konnten Fed, EZB & Co. den finalen Finanzsystem-Crash verhindern.

Wie heil ist die Finanzwelt von 2016?



Doch weiß jeder, dass eine systemgefährdende Staatsschuldenkrise in Europa ähnlich wie unreine Haut nur durch viel Make-Up bislang gut verdeckt wurde. Und die finanzielle Gesundung Griechenlands ist so unwahrscheinlich wie die menschliche Besiedlung des Mars. Die Eurozone kommt - wie man im Ruhrgebiet sagt - nicht in die Pötte.

Tatsächlich riecht es 2016 wieder streng nach Finanzkrise: Viele der Energieanleihen aus der US-Fracking-Industrie sind notleidend und genau diese Not spüren jetzt auch viele europäische Banken, die in sie liebend gerne investiert haben. Einen Vorwurf kann man ihnen nicht machen: Fracking galt als zukunftsweisende alternative Ölfördermethode, um aus der Abhängigkeit von OPEC-Öl zu entkommen. Energieanleihen waren ein willkommener Exit aus renditeseitig nicht mehr satisfaktionsfähigen Staats- und Unternehmenspapieren.

Ohnehin kommt bei Banken aktuell keine Freude auf. Die Daumenschrauben der Regulierung, gewaltige Abschreibungen und inflationsartige Strafprozesse sind so etwas wie Aschermittwoch, Karfreitag und Volkstrauertag gleichzeitig an einem Tag.

Für Verunsicherung sorgen nicht zuletzt die Staatsfonds der Rohstoff- und Schwellenländer. Im Finanzwald bewegen sie sich wie Wilddiebe, die in allen Anleihesegmenten und bei Devisenreserven Kasse machen, um Liquidität für ihre schwächelnden Konjunkturen zu beschaffen. Selbst Hedgefonds sagen beim Abschied aus ihren Investments leise Servus und machen Kasse. Den Verlusten aus Ölgeschäften und aufgrund schlechter Konjunkturstimmung wollen sie nicht länger zuschauen. Liquidität ist in.

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Wenn der Wunsch nach Liquidität aufkommt, müssen alle Alarmglocken erklingen



Eine Cash is King-Haltung ist das Schlimmste, was Finanzmärkten passieren kann. Das haben wir schon 2008 gesehen. Damals waren selbst Finanz- und Geldpolitiker völlig von den Socken, dass die Pleite der kleinen Investmentbank Lehman - der ohne Einlagen- und Kreditgeschäft so viel Bedeutung für die Realwirtschaft zukam wie einem Tauchsieder für die Aufheizung der Nordsee - die Finanzwelt fast ruiniert hätte.

Das Problem war aber eben nicht die Pleite dieser Bank selbst, sondern die anschließend grassierende Risikoaversion. Auf einmal trauten sich die Finanzakteure - auch wenn sie sich wie alte Ehepaare jahrzehntelang kannten - nicht mehr über den Weg. Aus präventivem Misstrauen wurden die Portemonnaies zugenagelt und früher noch gut durchflutete Finanzmärkte waren plötzlich staubtrocken wie die Wüste Gobi. Und schließlich hatte auch niemand mehr Muße und Geld in die Realwirtschaft zu investieren. Die Welt geriet in die Rezession.

Misstrauen am Finanzmarkt ist die Ursünde schlechthin



Anflüge dieses Misstrauens sind auch heute bereits wieder zu beobachten. Das Kreditrisiko europäischer Banken hat seit Jahresanfang wieder deutlich zugenommen. Nicht umsonst verliert der europäische Bankenindex relativ zum europäischen Aktienleitindex (Stoxx 600 Europe) markant.

Grafik: 5J Kreditrisiko europäischer Banken und europäischer Bankenindex relativ zum europäischen Aktienleitindex (Stoxx 600 Europe)





Selbst bei Staatsanleihen im Euro-Raum ist eine finanztechnisch unlogische Flucht in Sicherheit auszumachen: Während Deutschland auf dem Weg zu neuen Allzeit-Renditetiefs bei 10-jährigen Staatsanleihen ist, tendieren Renditen in Spanien, Italien und Portugal schwungvoll nach oben. Das ist absurd, denn die EZB hatte doch mit ihrem Euro-Rettungsversprechen seit 2012 und schließlich ihren tatsächlichen Staatsanleiheaufkäufen - die netto mehr Staatspapiere aufkaufen als durch Neuverschuldung hinzukommen - das Thema Staatsschuldenkrise eigentlich gelöst.

Grafik: Rendite 10-jähriger Staatsanleihen in der Eurozone seit Anfang 2015





Sicherlich kann man der Geldpolitik nicht unterstellen, dass sie bislang die Realwirtschaft wirklich wachgeküsst hat. Da war der Prinz bei Dornröschen erfolgreicher. Die Gute scheint einen besonders tiefen Schlaf zu haben.

Grob fahrlässig wäre es aber, wenn die Notenbanken ihre psychologische Lufthoheit über den Finanzmarkt-Stammtischen verlieren. Wenn die Geldpolitik Finanzkrisen nicht von Anfang an bekämpft, darf man sich über eine galoppierende Risikoaversion an den Finanzmärkten nicht wundern, die früher oder später auch jede noch vorhandene gute Stimmung in der Realwirtschaft ins Gegenteil verkehrt.

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Aus einer Finanzmarkt-Mücke wird schnell ein systemgefährdender Elefant



Allein das "Zinserhöhungsgerede" in den USA kommt stimmungsseitig dem Verdünnen der Party-Bowle mit Mineralwasser gleich. Schon eine einzige US-Zinserhöhung von 0,25 Prozentpunkten im Dezember sorgte für Kapitalabzug aus den Schwellenländern. Die US-Zinswende im Dezember war ein Fehler.

Ein noch viel größerer Fehler wäre jetzt ihre sture Fortsetzung. Man muss der Deflation ja nicht noch mehr Nahrung geben. Unser seit 2008 wieder mühsam aufgebautes Weltfinanzsystem wäre dann so brüchig wie ein Gartenhäuschen, das vom Holzwurm befallen ist.

Aber auch Chinas Notenbank hat keinen Anlass, sich geldpolitisch zurückzulehnen. Es wird tatsächlich immer noch zwischen drei und vier Prozent - die offiziellen Zahlen von 6,5 Prozent kommen von den Brüdern Grimm - wachsen. Damit könnten China und die Weltwirtschaft leben. Sollte man aber lange genug auf der Seele der chinesischen Aktionäre herumtrampeln, wird irgendwann aus schlechter Marktpsychologie Risikoaversion, dann Konsum- und Investitionsunlust und schließlich Wachstumsschwäche. Ich bin kein Freund von sozialistischer Planwirtschaft, aber um über die Stabilität der Finanzmärkte auch Ruhe in den chinesischen Konjunktur-Karton - die Lage ist ohnehin besser als die Stimmung - zu bringen, wird sie jetzt dringend gebraucht.

Grafik: Wirtschaftswachstum und Aktienmarkt in China





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Notenbanken hört die Finanzmarkt-Signale: Aufgescheuchte Hühner legen keine Eier



Jetzt das geldpolitische Breitbandantibiotikum zu verknappen, lässt die alten Krisenviren wieder zum Vorschein kommen. Im Extremfall waren alle Maßnahmen seit 2008 für die Katz. Wer 2016 neue Finanzkrisen zulässt, hat aus der Finanzkrise von 2008 nichts gelernt. Das sage ich auch vor dem Hintergrund einer Europa-Politik, die als Debattierclub sofort ins Guinness Buch der Rekorde kommt, sich aber in puncto Lösungen gerne zurückhält und damit nur für eins sorgt: Verunsicherung!

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich als Stabilitäts-Kind wünsche mir eine stabilitätsgerechte Geldpolitik mit auch wieder höheren Anlagezinsen zurück. Die Deutsche Bundesbank gehörte mit zum Besten, was Deutschland seit dem II. Weltkrieg passiert ist. Doch angesichts hoch verunsicherter Finanzmärkte ist die Rückkehr zu einer geldpolitischen Normalität mit schweren Kollateralschäden verbunden.

An dieser bitteren Wahrheit kommen wir leider nicht vorbei. Eine laxe Geldpolitik ist zwar nicht alternativlos, aber die Alternative riecht nach Währungsreform à la 1948.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.