Mehr als jeder zweite Rentner bekam 2018 weniger als 900 Euro Rente im Monat. Wahrscheinlich hätten die Bezieher gern mehr bekommen. Nicht so Oliver Noelting. Der Berliner ist 31 Jahre alt, Softwareentwickler von Beruf und Vater einer kleinen Tochter. Er lebt freiwillig von rund 900 Euro pro Monat. Seit Jahren legt er monatlich mindestens 1000 Euro auf die hohe Kante. Sein Ziel: spätestens mit 40 in Rente zu gehen. "Ich will dann nicht die Füße hochlegen. Es geht mir in erster Linie darum, finanziell frei zu sein", sagt er.

Den Beschluss, nicht bis 67 im Erwerbsleben zu stehen, hat Noelting bereits als Student gefasst. Beim Berufseinstieg achtete er darauf, dass seine Ausgaben gering blieben. Ein Auto, teure Urlaube, eine große Wohnung - auf all das verzichtet Noelting. "Ich schaue, was ich wirklich brauche, und was ich nicht brauche, lasse ich weg", sagt er. "Das fühlt sich nicht nach Verzicht an. Für ein glückliches Leben benötigt man nicht viel Geld."

Noelting steht nicht allein da mit seinem Wunsch, früh aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Im Internet vernetzen sich immer mehr Menschen, die dank eisernem Sparen und klugem Investieren schon mit 40 Jahren oder sogar noch früher in den Ruhestand gehen wollen. Die sogenannte FIRE-Bewegung trifft den Nerv einer Zeit, in der klassische Karrierewege seltener werden und das Vertrauen in die gesetzliche Rente bröckelt. Das Akronym "FIRE" steht für "Financial Independence, Retire Early". Im angelsächsischen Raum gilt der kanadische Blogger Peter Adeney als Vater der Bewegung, besser bekannt unter dem Pseudonym "Mr. Money Mustache". Der Software-Ingenieur legte im Jahr 2005 mit 30 Jahren seinen Job nieder, um von Ersparnissen und Kapitalerträgen zu leben. In Deutschland holen sich angehende Ultrafrührentner ihre Inspiration unter anderem auf Noeltings Blog frugalisten.de.

Man könnte argumentieren, dass es eher hedonistisch sei, schon in jungen Jahren nicht mehr arbeiten zu wollen. Tatsächlich lässt sich dieses Ziel aber kaum erreichen, wenn man einem ausschweifenden Lebensstil frönt. Christian Lange vom VZ Vermögenszentrum sagt sogar: "Mit reinem Ansparen hat man keine Chance, das zu schaffen." Die meisten Frugalisten (abgeleitet vom englischen Wort frugal = bescheiden, sparsam) kombinieren deshalb einen strikten Sparkurs mit diversen, häufig passiven Anlagestra- tegien. Das kann durchaus Erfolg haben. Allerdings benötigt man für ein Leben als Frührentner mehr Geld, als vielen Menschen bewusst ist - auch dann, wenn man nur noch zu Hause Urlaub macht.

Nur sparen reicht nicht für Rente mit 40


Zu den Fixkosten, mit denen Ruhständler ebenso wie Berufstätige rechnen müssen, gehören Miete, Strom und Steuern. Daneben ist einer der größten Posten für Privatiers der Krankenkassenbeitrag. Wer nirgends angestellt ist, zahlt als Privatversicherter seinen vereinbarten Beitrag weiter. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird man in diesem Fall als freiwillig Versicherter geführt. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt dort im laufenden Jahr bei 4687,50 Euro pro Monat. Auch wenn die monatlichen Einkünfte diese Schwellübersteigen, klettern die Beiträge nicht weiter. Auf der anderen Seite rechnen die gesetzlichen Kranke versicherer mit einem Mindesteinkommen von derzeit 1061,67 Euro im Monat. Wer weniger verdient, wird auf diese fiktive Mindestschwelle hochgestuft. Auf das Einkommen, zu dem auch Kapitaleinkünfte zählen, werden 14 Prozent Beitragssatz (ohne Krankentagegeld) fällig, plus Zusatzbeitrag der jeweiligen Kasse. Frührentner müssen also mindestens 148 bis 656 Euro pro Monat für die Krankenversicherung einplanen.

Wer gesetzlich krankenversichert ist, gehört automatisch auch der gesetzlichen Pflegeversicherung an. Privatversicherte müssen eine Pflege-Pflichtversicherung abschließen. Der Beitrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung liegt derzeit bei 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens. Für kinderlose Beitragszahler werden 3,3 Prozent fällig. Kein Muss für Privatiers ist dagegen die gesetzliche Rentenversicherung. Sie können dort jedoch freiwillig versichert bleiben, um ihren Angehörigen den Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente zu sichern. Zwischen dem Mindestbeitrag in Höhe von 83,70 Euro und dem Höchstbeitrag von 1246,20 Euro können freiwillig Versicherte die Höhe ihres Monatsbeitrags frei wählen.

Kalkulation mit vier Prozent Rendite


Wer nicht schon in jungen Jahren im Eigenheim wohnt, sollte monatlich mit etwa 2000 Euro fürs Leben kalkulieren, sagt Honorarberater Lange. Um diese Summe rein aus Kapitaleinkünften zu ziehen, benötigt man bei angenommenen drei Prozent Rendite und zwei Prozent Inflation im Jahr einen üppigen Kapitalstock: 1 060 000 Euro. In dieser Rechnung bleibt das Grundkapital unangetastet. Natürlich können Frührentner auch das angesparte Geld aufzehren - allerdings erst in fortgeschrittenem Lebensalter, sonst geht die Rentenrechnung nicht auf. "Wer mit 40 in den Ruhestand geht, muss erst vom Kapitalertrag leben und kann noch nicht an die Substanz gehen", sagt Lange.

Drei Prozent Rendite sind eine eher konservative Annahme. Viele FIRE-Anhänger rechnen lieber mit der Vier-Prozent-Regel. Diese geht auf eine US-Studie aus dem Jahr 1998 zurück und besagt: Wer jeweils hälftig in Aktien und Anleihen investiert und jedes Jahr vier Prozent aus dem Kapitaltopf entnimmt, kommt mit dem Geld sehr wahrscheinlich 30 Jahre lang hin. Dieser Rechnung zufolge bräuchten Jungrentner, die von 2000 Euro im Monat leben wollen, nur rund 600 000 Euro, um finanzielle Freiheit zu genießen. Die Autoren der sogenannten " Study" gingen bei ihren Renditeprognosen allerdings vom US-Markt aus. Darüber hinaus haben sich die Bedingungen an den Kapitalmärkten seit den 1990er-Jahren verändert. So ist es heute unter anderem deutlich schwieriger, mit Anleihen nennenswerte Erträge zu erwirtschaften. Frugalist Noelting plant für seinen Frühruhestand mit relativ geringen monatlichen Ausgaben.

Um die Kosten der Geldanlage niedrig zu halten, investiert er in börsengehandelte Indexfonds (ETFs). Sein ETF-Portfolio, das aus Aktien, Staatsanleihen, Immobilien und Rohstoffen besteht, soll im Schnitt vier Prozent Rendite im Jahr bringen. Läuft alles nach Plan, summieren sich Noeltings Kapitalerträge und Ersparnisse bis zu seinem 40.Geburtstag auf etwa 425 000 Euro. Laut Vier-Prozent-Regel könnte er dann monatlich 1400 Euro aus seinem Kapitaltopf entnehmen - für ihn genug, um nicht mehr arbeiten zu müssen. "In dieser Rechnung stecken allerdings viele Unbekannte", schränkt Noelting ein. Er wisse weder, wie viele Kinder er und seine Freundin in knapp zehn Jahren haben werden, noch, ob er bis dahin womöglich aus anderen Gründen mit höheren Ausgaben kalkulieren müsse.

Nur Radfahren oder ein Buch schreiben


Lars Hattwig hat es geschafft. Der 49-Jährige hat vor fünf Jahren seinen Job als Meteorologe gekündigt und lebt seither in erster Linie von Kapitaleinkünften. Um an diesen Punkt zu gelangen, hat Hattwig jahrelang gespart, das Rauchen aufgegeben, Zeitschriften-Abos gekündigt und auf vieles verzichtet. "Ich habe mir bewusst gemacht, wohin mein Geld fließt, und begonnen, meine Ausgaben zu hinterfragen", erzählt der Berliner. Der Anlass bestand darin, dass er eines Tages kurz nach der Jahrtausendwende am Geldautomaten stand - und dieser ihm kein Geld geben wollte. Was als Projekt zur disziplinierteren Haushaltsführung begann, wandelte sich im Lauf der Zeit zu dem Plan, nicht mehr auf den monatlichen Lohn angewiesen sein zu müssen.

Hattwig begann, sich für die Börse zu interessieren, eröffnete ein Depot, kaufte Aktien und ETFs. "Ich wollte nicht nur sparen, sondern mein Geld für mich arbeiten lassen", sagt er. Nach Anfängerfehlern, reichlich Lehrgeld und einer überstandenen Finanzkrise lief es - und Hattwig stellte eines Tages fest, dass die Kapitalerträge seine Arbeitseinkünfte überstiegen. Bald darauf kündigte er seinen Job. Er habe zu diesem Zeitpunkt "ein paar Hunderttausend Euro" am Kapitalmarkt investiert, schätzt er. Genau weiß er es nicht mehr. Anders als viele angehende Frührentner hat er auch keine jährliche Zielrendite definiert. "Die Rendite muss über fünf oder zehn Jahre hinweg stimmen", sagt er. Hattwig kombiniert mittlerweile ein ETF-Portfolio mit einer Trendfolgestrategie via Einzeltitel. Monatlich kommt so genug Geld zusammen, um ihm einen komfortablen Ruhestand zu ermöglichen, den er unter anderem für sein Hobby nutzt: das Fahrradfahren. "Ich kann jedem empfehlen, sich auf den Weg zur finanziellen Freiheit zu machen", sagt er. "Man gewinnt Freiheit und Lebensqualität."

Hattwig lebt heute von rund 2000 Euro im Monat. Die stammen allerdings nicht nur aus seinem Anlagekapital. Er gibt auch Onlineseminare zum Thema finanzielle Freiheit und nimmt Aufträge als Coach an. Angewiesen sei er auf diese Zusatzeinnahmen nicht. Dennoch fällt auf, dass viele Frugalisten etwas dazuverdienen. Zum Beispiel Burkhard und Sabine Koch: Das Paar ist nach 14 Jahren des Sparens und Investierens seit 2004 finanziell unabhängig, tourt seitdem mit einem umgebauten Lkw durch die Welt und verdient Geld mit Büchern und Magazinartikeln.

Florian Wagner, Betreiber des Frugalisten-Blogs geldschnurrbart.de, hat das Buch "Rente mit 40" verfasst, das Erfolgsgeschichten anderer Frugalisten erzählt. Ein Bestseller. Die Berlinerin Gisela Enders schreibt ebenfalls Bücher über finanzielle Unabhängigkeit und ist überdies als Coach für Unternehmen und Vereine tätig. Viele Ultrafrührent verdienen an anderen Menschen, die auch zeitig in Rente gehen wollen. Früher oder später dürfte so ein Sättigungseffekt eintreten. Dann wird sich zeigen, wessen Plan wirklich aufgeht und wer womöglich doch in den Job zurückkehren muss.