Trotz Rekordjagd an der Wall Street warnt Ökonom Hans-Werner Sinn: Die USA leben auf Pump, der Dollar wackelt – und Europa bleibt machtlos abhängig.

Die amerikanischen Aktienmärkte feiern neue Allzeithochs, als gäbe es keine Wolken am Horizont. Der S&P 500 liegt seit Jahresbeginn rund 15 Prozent im Plus, der Nasdaq sogar um 19 Prozent und der Dow Jones 11 Prozent. Doch während Investoren die nächste Wachstumsstory einpreisen, zeichnet der Ökonom Hans-Werner Sinn ein völlig anderes Bild: ein Amerika, das finanziell und politisch zunehmend unter Druck gerät.

Ineinem Interview mit dem "Handelsblatt" warnt der frühere Ifo-Präsident vor einer wirtschaftlichen und politischen Schieflage der Supermacht – und einer gefährlichen Selbsttäuschung Europas.

Ein Imperium auf Pump

„Die USA pfeifen finanziell auf dem letzten Loch“, sagt Hans-Werner Sinn unmissverständlich. Der Kern seiner Diagnose: Ein Land, das jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt hat. Die Nettoauslandsschulden der USA liegen laut Sinn inzwischen bei rund 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ein Wert, der an krisenanfällige Staaten wie Griechenland erinnert.

Über Jahre hätten die Vereinigten Staaten „echte Güter importiert und bedrucktes Papier exportiert“. Mit anderen Worten: Die Supermacht hat ihren Konsum auf Pump finanziert – staatlich wie privat. Die Schuldenquote des US-Bundesstaats liegt über 120 Prozent, während die Leistungsbilanzdefizite weiterlaufen.

Sinn sieht die jüngste Dollar-Abwertung als Menetekel: Sie sei ein Signal, dass das Vertrauen des internationalen Finanzkapitals in die USA zu bröckeln beginne. Diese Kapitalflucht sei keine Episode, sondern ein Symptom für tieferliegende Probleme.

Politischer Druck auf die Notenbank – ein gefährliches Spiel

Besonders kritisch bewertet Sinn den zunehmenden politischen Einfluss auf die Federal Reserve. US-Präsident Trump setze alles daran, die Leitzinsen zu senken – nicht aus wirtschaftlicher Vernunft, sondern zur Finanzierung des gigantischen Schuldenbergs.

„Die Fed ist gefährdet“, warnt Sinn, und verweist auf die Personalpolitik des Präsidenten: Die Berufung von Stephen Miran ins Board sei ein klares Signal, wohin die Reise gehe. Miran hatte öffentlich über einen sogenannten Mar-a-Lago-Akkord spekuliert – eine Zwangsumschuldung ausländischer Gläubiger amerikanischer Staatsanleihen, um die Zinslast zu senken.

Ein solches Szenario, so Sinn, wäre nicht nur ein Bruch des Vertrauens in die USA, sondern auch eine massive Erschütterung des globalen Finanzsystems. Der Status des US-Dollars als Leitwährung wäre gefährdet – ein historischer Paradigmenwechsel.

Die Diskrepanz zwischen Märkten und Realwirtschaft

Während Devisen- und Anleihemärkte längst auf die fiskalischen Risiken reagieren, zeigen sich die Börsen von alldem unbeeindruckt. Für Sinn ist das ein gefährliches Signal: Die Kapitalmärkte hätten die strukturellen Risiken Amerikas noch nicht eingepreist.

„Nur die Aktienmärkte, nicht der Devisenmarkt und nicht der Markt für Staatspapiere, haben sich beruhigt“, erklärt der Ökonom. Die Euphorie rund um AI, Tech-Giganten und robuste Konsumausgaben verdecke, dass die USA ökonomisch immer abhängiger von billigem Geld geworden sind. Sollte der Dollar seine Leitwährungsfunktion verlieren oder die Finanzmärkte das Vertrauen in die Bonität Washingtons verlieren, könnte die Rallye abrupt enden. „Das sind Zahlen, die bald an Griechenland und Zypern heranreichen“, warnt Sinn mit Blick auf die US-Verschuldung.

Europas Abhängigkeit – und fehlende Strategie

Doch auch Europa hat seine eigene Probleme. Während die USA ihre Macht aggressiv nutzen, bleibt Europa zersplittert und machtpolitisch schwach. „Europa kommt nur mit den autokratischen Mächten zurecht, wenn es selbst militärische Kapazitäten aufbaut“, fordert Sinn.

Nur ein eigenständiger sicherheitspolitischer Block könne verhindern, dass der Kontinent dauerhaft von Washington abhängig bleibe. Der Ökonom plädiert für einen „Europäischen Bund“, eine Verteidigungsunion jenseits der EU-Strukturen, die effizienter und entschlossener handeln könne.

Denn Washington agiere zunehmend mit „Schutzgelderpressung“: Zölle, Energieverträge und militärische Sicherheitsgarantien würden dazu genutzt, europäische Partner zu Zahlmeistern zu machen. Ein strategisch und finanziell eigenständiges Europa sei die einzige Chance, nicht zum Spielball zu werden.

US-Börsen feiern ihr Hoch auf Pump – und stehen an einem möglichen Kipppunkt

Sinns Fazit fällt entsprechend düster aus: Die USA stehen ökonomisch und politisch an einem Wendepunkt – und die Börsen ignorieren das weitgehend. „Die Märkte haben sich längst wieder beruhigt – nur die Aktienmärkte, nicht der Devisenmarkt und nicht der Markt für Staatspapiere“, warnt er in der Wirtschaftszeitung. Sollte die Illusion unendlicher amerikanischer Zahlungsfähigkeit platzen, könnte der Schock umso größer sein.  

Die aktuelle Hausse an den US-Börsen steht für den Wirtschaftswissenschaftler auf wackeligem Fundament. Das Land profitiert noch immer von seiner geopolitischen Dominanz und der Anziehungskraft des Dollars. Doch die Schuldenberge, politischen Spannungen und die Politisierung der Notenbank könnten diese Basis schneller erodieren lassen, als viele glauben.

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