von Angus Deaton, Gastautor für €uro am Sonntag

Der Kapitalismus ist relativ plötzlich und für alle sichtbar erkrankt. So feiert das Virus des Sozialismus ein Comeback und infiziert einmal mehr die junge Generation. Weisere Köpfe, die die vergangenen Erfolge des Kapitalismus durchaus respektieren, möchten die Wirtschaftsordnung retten und haben daher verschiedene Diagnosen und Heilmittel vorgeschlagen. Doch überschneiden sich ihre Vorschläge manchmal mit denen derjenigen, die das System ganz einreißen wollen, was die traditionelle Unterscheidung zwischen links und rechts ad absurdum führt.

Zum Glück hat sich der ehemalige Gouverneur der indischen Notenbank, Raghuram G. Rajan, der heute an der Booth School of Business der Universität Chicago lehrt, nun mit seiner beispiellosen Kenntnis und Erfahrung des Problems angenommen. In seinem neuen Buch "The Third Pillar: How Markets and the State Leave Community Behind" argumentiert er, dass das Krebsgeschwür, das den heutigen Kapitalismus befallen hat, weder durch ein Versagen des "Leviathan" (d. h. des Staats) noch des "Behemoth" (d. h. des Markts) bedingt sei, sondern durch eines der Gemeinschaft, die kein Gegengewicht gegen diese beiden dominierenden Kräfte mehr darstelle. Rajan verordnet daher einen "inklusiven Lokalismus", um wieder starke Gemeinwesen aufzubauen, die den Menschen Selbstrespekt, Status und einen Lebenssinn vermitteln können.

Rajans Buch ist - wie das Buch "Sozialer Kapitalismus" des Ökonomen Paul Collier von der Universität Oxford - Teil eines rasch wachsenden Genres von Kritiken durch die Freunde des Kapitalismus. Rajan ist ein erklärter Kapitalismusbefürworter, der aber akzeptiert hat, dass die Wirtschaftsordnung nicht länger im Interesse des Gemeinwohls funktioniert und wieder unter Kontrolle gebracht werden muss.

"The Third Pillar" bietet tiefe Einblicke in den historischen Zusammenhang, um den aktuellen Zustand zu erklären. Doch am überzeugendsten ist das Buch dann, wenn es die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg skizziert, um zu erläutern, warum ab etwa 1970 alles in die Brüche zu gehen begann. Bis dahin war die Welt eifrig mit der wirtschaftlichen Erholung und dem Wiederaufbau beschäftigt gewesen. Einen zusätzlichen Schub erhielt das Wirtschaftswachstum durch Übernahme neuer Technologien im Rahmen von Ersatzinvestitionen. Doch seit 1970 hat sich das Trendwachstum verlangsamt, was viele unserer aktuellen Schwierigkeiten begründet.

Und während dieser ganzen Zeit hatten die Regierungen keine Ahnung, wie sie dem Abschwung anders als mit dem Versprechen auf eine Wiederherstellung des verlorenen Paradieses der Nachkriegszeit begegnen sollten. In den meisten Fällen lief das auf eine zusätzliche Kreditaufnahme hinaus. In Europa haben die Eliten zudem mit dem großen Ziel, die immer wiederkehrenden Episoden des Gemetzels in Europa zu vermeiden, eine Einigung des Kontinents verfolgt. Doch in ihrer Eile, die offensichtlichen Vorteile der Integration sicherzustellen, vergaßen sie, ihre Bürger "mitzunehmen". Inzwischen haben sie gelernt: Auf Hybris folgt Nemesis.

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Die Konzerne verschlimmerten die Probleme, statt zu helfen


Der Erfolg der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit hat dabei die Macht des Markts geschwächt, mäßigend auf den Staat einzuwirken. Laut Rajan waren geschwächte Akteure, sowohl in Europa als auch in den USA, nicht in der Lage, mit der Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie fertigzuwerden. Die Normalbürger wurden mit der Bedrohung allein gelassen, und statt den Arbeitern bei der Bewäl­tigung der Disruption zu helfen, verschlimmerten die Konzerne die Situation, indem sie halfen, Aktionäre und Manager reich zu machen.

Und wie sie sich bereichert haben! Angesichts weitgehend stagnierender medianer Haushaltseinkommen und eines immer größeren Anteils des Vermögens, der bei den Reichen landete, verlor der erkennbar unfair gewordene ­Kapitalismus an öffentlicher Unterstützung. Um seine Gegner in Schach zu halten, rief dann Behemoth (der Markt) zu seinem Schutz nach Leviathan (dem Staat), ohne zu begreifen, dass ein rechtspopulistischer Leviathan Behemoth am Ende auffrisst.

Zwei Punkte in Rajans Geschichte verdienen besondere Beachtung. Erstens ist der Rückgang des Wachstums eine wichtige, wenn auch relativ niederfrequente Ursache des heutigen sozialen und wirtschaftlichen Drucks. Und zweitens sind die beklagenswerten Folgen der Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie keine zwangsläufigen Eigenschaften des technologischen Wandels. Vielmehr spiegeln sie, wie Rajan feststellt, "ein Versäumnis von Staat und Märkten bei der Regelung der Märkte" wider. Obwohl Rajan darauf nicht näher eingeht, bietet uns dieser zweite Punkt Anlass zur Hoffnung. Er bedeutet, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie uns nicht zu einer Zukunft der Massenarbeitslosigkeit verdammt; eine aufgeklärte Politik hat noch immer eine Rolle zu spielen.

Rajans Darstellung des Fehlverhaltens der Unternehmen ist dagegen sehr gut erzählt und umso überzeugender, als sie von einem Professor einer angesehenen Business School stammt. Die nahezu absolutistische Doktrin vom Primat der Aktionäre hat von Anfang an dazu gedient, die Manager auf Kosten der Arbeitnehmer zu schützen, und ihre bösartigen Auswirkungen wurden noch durch die Praxis verschärft, dass man die Manager in Aktien bezahlte.

In "Sozialer Kapitalismus" liefert Collier eine parallele Darstellung aus Großbritannien. Er erzählt die Geschichte des angesehensten britischen Unternehmens seiner (und meiner) Kindheit: Imperial Chemical Industries. Wir alle hofften, als wir aufwuchsen, dass wir irgendwann bei ICI arbeiten würden, dessen Mission darin bestand, "das beste Chemieunternehmen der Welt zu sein". Doch in den 90er-Jahren änderte ICI sein primäres Ziel, indem es sich die Idee vom Shareholder-Value zu Eigen machte. Und laut Colliers zerstörte diese eine Veränderung das Unternehmen.

Was ist mit der Gemeinschaft? Die USA waren einst weltweit führend bei der öffentlichen Bildung. Sie hatten kommunale Schulen, in denen Kinder mit jeder Begabung und jedem wirtschaftlichen Hintergrund zusammen lernten. Und als eine Grundschulbildung nicht mehr ausreichte, begannen die Kommunen, allen den Zugang zu weiterführenden Schulen zu öffnen.

Heute jedoch, wo ein Universitätsabschluss eine Grundvoraussetzung für den beruflichen Erfolg ist, verfolgen die begabteren Kinder den ihren weit außerhalb ihrer Gemeinwesen. Sie sondern sich letztlich selbst in die schnell wachsenden Städte ab, die den weniger Begabten aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten verschlossen bleiben. Abgeschirmt in ihrer Glitzerwelt, bilden die Erfolgreichen eine Meritokratie, in der ihre Kinder - und nahezu nur diese - dann ebenfalls erfolgreich sind.

Collier erzählt diese Geschichte für Großbritannien, wo sich Talent und Volkseinkommen zunehmend in London konzentrieren. Zurück bleiben ausgeweidete und daher wütende örtliche Gemeinden. Doch wie Janan Ganesh von der "Financial Times" argumentiert, finden sich die großstädtischen Eliten nun "an eine Leiche gekettet" wieder.

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Das örtliche Gemeinwesen ist ein Opfer der Märkte


Rajan betrachtet die Meritokratie als Produkt der Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie. Doch ich vermute, sie ist älter. Schließlich veröffentlichte der britische Soziologe Michael Young seine weit­sichtige Dystopie "The Rise of the Meritocracy" schon 1958. Tatsächlich gehören Collier und ich zu den ersten britischen "Meritokraten".

Und genau wie von Young prophezeit, zerstörte unsere Kohorte das System für die nachfolgenden Generationen, während sie gleichzeitig sein Loblied sang. In Schottland, wo ich aufwuchs, hat sich die geistige Elite der örtlichen Gemeinwesen - die Intellektuellen, Schriftsteller, Historiker und Künstler - komplett entweder auf die Suche nach grüneren Wiesen begeben oder es schlicht aufgegeben, mit den Superstars des Massenmarkts zu konkurrieren. Das macht uns alle ärmer. Wie Rajan bin ich der Ansicht, dass die örtlichen Gemeinwesen ein Opfer der Vereinnahmung der Märkte und des Staats durch eine elitäre Minderheit geworden sind. Doch anders als er bin ich skeptisch, dass stärkere örtliche Gemeinschaften oder eine Politik des Lokalismus das Übel heilen können. Man kriegt den Geist der Meritokratie nicht zurück in die Flasche.

Kurzvita

Angus Deaton
Professor an der Princeton University
Angus Deaton wurde 2015 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Er ist Professor emeritus für Ökonomie und internationale Angelegen­heiten an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs der Universität Princeton und der Verfasser von "Der große Aufbruch: Von Armut und Wohlstand der Nationen".

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