Boris Palmer (48) gilt längst als bekanntester Oberbürgermeister Deutschlands, obwohl die Universitätsstadt Tübingen mit weniger als 100.000 Einwohnern nicht zu den Metropolen zählt. Seiner Vorgängerin von der SPD nahm er das Amt 2006 bereits im ersten Wahlgang mit knapper absoluter Mehrheit ab. Dass seine kommunalpolitische Arbeit von den Tübingern ordentlich beurteilt wird, bewies seine Wiederwahl 2014, in der er bei starker Wahlbeteiligung und Konkurrenz im ersten Wahlgang bereits 61,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Ob er im Herbst 2022 ein drittes Mal antritt, ist ihm noch nicht zu entlocken. Doch der Vorstand seiner Tübinger Grünen hat ihm per Beschluss bereits signalisiert, dass die Partei ihn auf keinen Fall erneut als OB-Kandidaten unterstützt.

Ungeliebter Star

Palmer gilt in seiner Partei von der lokalen Funktionärsebene angefangen bis zur Landes- und Bundesspitze als Persona non grata. Hoffnungen auf höhere Ämter bei den Grünen kann sich der kluge und streitbare Mann kaum machen. Manche würden ihn am liebsten aus der Partei ausschließen, verorten ihn politisch gar in AfD-Gefilden. Palmer, der sich einst bundesweit als gut informierter und schlagfertiger grüner Tiefbahnhofgegner in Szene setzen konnte, als Heiner Geißler die im Fernsehen übertragenen Schlichtungsgespräche zum Bahnprojekt Stuttgart 21 moderierte, war damals bei den Grünen noch unumstritten.

Doch mit seinem von der kommunalpolitischen Realität geprägten Sinn für Pragmatismus wurde er zunehmend zu einer Stimme, die nicht mit der offiziellen grünen Sprachregelung harmoniert. Besonders deutlich wurde das auf dem Höhepunkt der Massenmigration, als Palmer die negativen Aspekte der ungesteuerten Zuwanderung thematisierte: steigende Kriminalität, Entwicklung von Parallelgesellschaften, Überforderung der Gesellschaft. Mit seinem Bestseller "Wir können nicht allen helfen" setzte er 2017 einen deutlichen Akzent gegen die blauäugige "Refugee welcome"-Kultur, die in grünen Kreisen anfangs vorherrschte.

Als er in der Corona-Pandemie im vergangenen Frühjahr in einem TV-Interview den Satz formulierte: "Ich sag’s Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen", brach ein unglaublicher Proteststurm gegen Palmer los. Distanzierungen und Parteiaustrittsforderungen von Spitzen-Grünen gab es gleich dutzendfach.

Wer das Interview ganz gesehen hatte, konnte Palmer alles unterstellen, nur nicht, dass er das vorzeitige Frühableben von älteren Corona- Opfern guthieß. Auch seine erfolgreiche Strategie, Seniorenheime gezielt vor Infektionen zu schützen, ist Beleg dafür, wie unhaltbar dieser Vorwurf war. In den dramatischen Tagen danach habe er geglaubt, seine politische Zeit sei beendet, bilanzierte er später. Doch Palmer hat etwas zu sagen. Er vertritt seine Überzeugungen mit guten Argumenten.

In den vergangenen Monaten wurde er zu einem der profiliertesten Kritiker der offiziellen Corona- Politik. Solche Politiker braucht das Land, die Kompetenz mit Standhaftigkeit verbinden. Wenn die Grünen sich tatsächlich von einem so meinungsstarken Kopf trennen wollten, der weit über das eigene Spektrum hinaus populär ist: Sie schössen ein kapitales Eigentor.

Kenner der Tübinger Szene spekulieren übrigens, dass die rund 300 Mitglieder starke Parteibasis "ihren" Oberbürgermeister trotz der Vorstandsentscheidung wieder nominieren würde, sollte sich Palmer um die Unterstützung für eine erneute Kandidatur bemühen.

€uro am Sonntag: Kaum ein überregionales Printmedium ohne Ihre Gastbeiträge mit Alternativvorschlägen zur herrschenden Corona-Krisenpolitik, kaum ein TV-Format ohne Sie. "Bild" pushte Sie gar als besseren grünen Kanzlerkandidaten. Kommen Sie in diesem medialen Hype überhaupt noch zur Ruhe?

Boris Palmer: Mich beschäftigt derzeit vor allem, was die Corona- Politik mit unseren Kindern und der Tübinger Innenstadt macht. Das stresst mich weit mehr als die Medienanfragen. Weil die Arbeitszeit eines Oberbürgermeisters in normalen Zeiten zu etwa der Hälfte aus persönlichen Begegnungen mit der Bürgerschaft besteht, habe ich in den Zeiten der Kontaktbeschränkungen derzeit sogar mehr Freizeit, in der ich die Muße zum Schreiben und Nachdenken habe. Mit meinem Sohn bin ich in den Schneetagen sogar mehrmals zum Schlittenfahren gekommen.

Tübingen liegt beim Inzidenzwert zum Zeitpunkt unseres Gesprächs (25. Januar) bei knapp unter 50. Zu diesem Zeitpunkt ist das der niedrigste Wert in ganz Baden-Württemberg. Welche Rolle spielt dabei Ihre spezielle lokale Corona-Strategie, betagte Hochrisikopatienten in Heimen durch systematische Tests vor Infektionen zu schützen?

Das kann man nicht seriös beantworten. Bei der allgemeinen Inzidenz spielen so viele Faktoren eine Rolle, da lässt sich kaum quantifizieren, welchen Anteil daran eine städtische Strategie hat. Was man ziemlich sicher sagen kann: Nachdem es im Dezember drei Virusausbrüche in lokalen Altenheimen gab, haben wir diese schnell unter Kontrolle bringen können. Seither gab es bei uns keine weiteren Corona-Infektionen in Alten- und Pflegeheimen. Dass solche Einrichtungen häufig Corona-Hotspots sind, treibt die Inzidenzwerte bekanntlich schnell hoch. Denn wenn eine Corona-Welle durch Alten- und Pflegeheime rollt, dann gibt es eben auf einen Schlag hohe zweistellige Fallzahlen. Davon sind wir jetzt verschont. Und das führt zum niedrigen Inzidenzwert Tübingens.

Skizzieren Sie bitte Ihre Hauptkritikpunkte an der herrschenden Corona-Krisenpolitik in Deutschland.

Ich halte bis heute die Güterabwägung zwischen dem Recht auf Arbeit, dem Recht auf Bewegungsfreiheit, dem Recht auf soziale Teilhabe und andererseits dem Datenschutz für falsch. Wir setzen rigorose Beschränkungen bis hin zur Trennung von Familien durch, sind auf der anderen Seite aber nicht bereit, die technischen Möglichkeiten zu nutzen, über die unsere Mobiltelefone verfügen. Denn die können Ort und Zeitpunkt jeder Infektion protokollieren und bei Bedarf an die Gesundheitsämter weitergeben. Die Blindheit der Corona-App gegenüber den Infektionsquellen ist absichtlich erzeugt. Unsere Handys wissen genau, wie diese Pandemie verläuft. Nur haben wir uns in Deutschland entschieden, auf diese Daten nicht zuzugreifen. Das halte ich für unbegreiflich.

Sie machen sich auch Sorgen um das wirtschaftliche Überleben des Einzelhandels und der Gastronomie in Ihrer Stadt, haben in einem Alarmbrief an konkreten Beispielen die Konkursgefahren aufgezeigt.

Vor zwei Wochen habe ich noch gesagt, der Handel liegt auf der Intensivstation und bald fällt er ins Koma. Glücklicherweise hat der Protestaufschrei von der kommunalen Front ein wenig Besserung bewirkt: in Form von Infusionen durch Euros. Die Bedingungen für die jüngste Überbrückungshilfe III sind jetzt verbessert: Abschreibung von Saisonware, Anerkennung von Mieten, höhere monatliche Unterstützungsbeträge, um den Bedarf größerer mittelständischer Betriebe abzudecken. Jetzt sollte das Geld nur auch zügig fließen. Dann glaube ich, dass der Handel den Lockdown bis Mitte Februar noch überleben kann.

Nicht wenige Kunden haben in der Not jetzt den Onlinehandel für sich entdeckt.

Die entscheidende Frage wird sein, ob die Kunden nach dem Lockdown-Ende überhaupt zum stationären Einzelhandel zurückkehren oder nicht dauerhaft ins Internet abgewandert sind. Je länger sich Kunden daran gewöhnen, dass man keinen stationären Handel braucht, umso wahrscheinlicher ist es, dass Amazon & Co die größten Gewinner dieser Krise sind und wir nachher vor öden und leeren Innenstädten stehen.

Auch der Fiskus verliert, weil der stationäre Handel erheblich mehr Steuern bezahlt als die Techgiganten für die Gewinne, die sie in Deutschland mit ihren hohen Umsätzen machen.

Wir alle wissen, dass die Steuervermeidungsmöglichkeiten im Internet drastisch besser sind als in der Fußgängerzone.

Welche Lockerungen des aktuellen Lockdowns haben für Sie Priorität?

Ich halte die Öffnung von Kitas und Grundschulen für zwingend. Diesen Kindern schadet die Corona-Politik nur, hinterlässt ihnen auch langfristig eine gigantische Schuldenlast. Schutz brauchen sie keinen, weil sie das Virus meistens nicht mal bemerken. Ansonsten mündet es in einem einfachen Schnupfen. Der indirekte Schutz der bedrohten Alten durch das Schließen von Kitas und Grundschulen ist generationenungerecht und unangemessen. Deshalb plädiere ich für Öffnung. Das ist auch aus praktischen Gründen notwendig. Infolge der sogenannten Notbetreuung haben wir etwa in Tübingen auch heute ein Drittel der Kinder in der Schule. Die Lehrer sollen dann ein Drittel im Präsenzunterricht unterrichten und die anderen zwei Drittel per Videounterricht zu Hause. Unter Qualitätsgesichtspunkten kann man das komplett abschreiben. Deshalb nochmals: Kitas und Grundschulen zwingend öffnen und zwar schnell!

Wie sieht es für Handel, Gastronomie und Dienstleister aus?

Für diese Bereiche existieren genügend Hygienekonzepte, um sie sicher abzuwickeln. Das lässt sich auch noch weiter verbessern mit Terminvergabe, FFP2-Masken, Zugangsbeschränkungen, speziellen Einkaufszeiten für Risikogruppen. Da ist bereits viel Kreativität entwickelt worden. Sicheres Einkaufen im Einzelhandel ist durchaus möglich. Allein die Angst davor, dass sich Menschen auf der Straße infizieren, ist nach meiner Meinung nicht ausreichend, um das Risiko dauerhaft toter Innenstädte in Kauf zu nehmen.

Themenwechsel: Als Kommunalpolitiker haben Sie bundesweit Aufmerksamkeit erregt, weil sie Baulücken per Baugebot (§ 176 Baugesetzbuch) für eine schnelle Bebauung mobilisieren wollten. Von Zwangsgeldern bis zu 50.000 Euro war die Rede, falls Grundstücksbesitzer nicht zum Verkauf oder zur Bebauung innerhalb einer Zweijahresfrist bereit wären. Wie ist der Sachstand heute?

Ich halte das Vorgehen angesichts des Wohnungsmangels in unserer Stadt für begründet, für rechtlich korrekt und sachlich geboten. Deswegen stehe ich dahinter. Jetzt ist nur noch die Frage des Erfolgs zu klären. Wie effektiv ist das Instrument? Wir stellen fest, dass die Zahl der Bauanträge auf diesen Baulücken steigt. Das ist für mich das wichtigste Kriterium. Wir mussten kein einziges Baugebot aussprechen und erreichen trotzdem die Mobilisierung dieser Baulücken.

Die Stadt hat kein Bußgeldverfahren gegen Eigentümer eingeleitet?

Nein!

Und Ihr Versuch vom letzten Herbst, Eigentümer zur 15-jährigen Verpachtung ihrer unbebauten Grundstücke zu bewegen, um dort schnell kleine "Tiny Houses" zu errichten? Konnten Sie damit die Sorge der Eigentümer dämpfen, ihre für die Familie vorgehaltenen unbebauten Grundstücke endgültig aus der Hand geben zu müssen?

Da bin ich offen gestanden enttäuscht. Ich dachte, das könnte ein Königsweg sein, weil ich keine Nachteile mehr sehe, wenn man ein Grundstück, das man selbst nicht braucht, für zehn bis 15 Jahre verpachtet. Darauf gab es fast keine positiven Reaktionen. Offensichtlich sitzt der Gedanke so tief in den schwäbischen Genen, dass man auch auf Zeit nichts hergibt, was man hat. Schade!

Mobilisiert man Wohnraum mit staatlicher Regulierung und Zwang oder mit Baulandausweisung und einer investitionsfreundlichen Politik? Berlin erfährt gerade, dass trotz oder gerade wegen des gesetzlichen Mietpreisstopps und der Enteignungsdebatten großer Wohnungsbaukonzerne sowohl Neubau wie notwendige Modernisierungen in der Hauptstadt eingebrochen sind.

Das ist eine falsche Fragestellung. Es geht nicht um die Grundsatzfrage Zwang oder Freiwilligkeit. Es geht um die konkrete Ausformung von Pflichten, die auch aus dem Eigentum resultieren. Früher hat Tübingen Bebauungspläne erstellt, Erschließungsstraßen gebaut, für Wasser- und Abwasseranschlüsse gesorgt, den Grundstückseigentümern aber freigestellt, ob sie tatsächlich bauen. Das Ergebnis sind etwa 500 Baulücken, die teilweise seit 30 und mehr Jahren unbebaut geblieben sind. Vor sechs Jahren haben wir umgestellt. Jetzt gibt es in Tübingen nur noch neues Baurecht, wenn alle Grundstückseigentümer an die Stadt verkaufen und beim Rückkauf eines Baugrundstücks eine Bauverpflichtung innerhalb von vier Jahren akzeptieren. Das ist Zwang, aber er funktioniert. Neue Baulücken gibt es in Tübingen nicht mehr. Man kann öffentlich-rechtliche Verpflichtungen so ausgestalten, dass sie demotivieren, Leute vor den Kopf stoßen und Investoren abschrecken. Es spricht manches dafür, dass Berlin diese Technik ganz gut beherrscht. Doch das spricht nicht gegen Zwang, sondern gegen die Konstruktion des Zwangs.

Bewohnen Sie eigentlich eine Eigentumswohnung?

Nein, ich wohne zur Miete in der Tübinger Innenstadt mit Blick auf die historische Altstadt und nur fünf Minuten Fußweg zu meinem Arbeitsplatz im Rathaus. Doch Wohneigentum als eine Säule der Altersversorgung bejahe und praktiziere ich auch wie viele Mitbürger.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Palmer.
 


Vita:

Grüner Durchstarter

Boris Palmer wurde am 28. Mai 1972 geboren und wuchs in der Nähe von Stuttgart auf. 1996 wurde er Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, ab 1998 war er Mitglied im Kreisvorstand Tübingen. Im März 2001 errang Palmer als Kandidat der Grünen einen Sitz für den Wahlkreis Tübingen im Stuttgarter Landtag. Im Oktober 2006 wählten die Bürger der Universitätsstadt Tübingen den damals 34-Jährigen zum Oberbürgermeister. Erstmals gelang es einem Grünen, eine OB-Wahl im ersten Durchgang für sich zu entscheiden. 2014 wurde Palmer mit 61,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang wiedergewählt.