So langsam wird es knapp. Seit Monaten hat die Corona-Pandemie das einstige Dauerthema Brexit an den Rand gedrängt. Jetzt ist es wieder präsent. Denn am 31. Dezember endet die Übergangsphase, während der sich die EU und Großbritannien auf einen Austrittsvertrag einigen wollen. Schlagen die Verhandlungen fehl - dann gute Nacht. Es käme zu einem ungeregelten Austritt des Königreichs aus der EU. Mit unangenehmen Folgen: Handelshemmnisse und hohe Zölle. Das würde beide Seiten schmerzen.

Insgesamt jedoch, da sind sich die Experten einig, dürfte ein solch extremes Szenario vor allem die Briten treffen. Das Wachstum des Königreichs dürfte auf Jahre schwach bleiben. Außerdem würde das Britische Pfund massiv abwerten.

Allerdings, und das ist die gute Nachricht, sehen die Prognosen derzeit gar nicht schlecht aus, dass man sich doch noch einigt. Kurz vor Ladenschluss.

Seit vier Jahren Unsicherheit

Das wäre auch für die Börse eine gute Nachricht. Anleger machen schon lange einen großen Bogen um den Aktienmarkt in London. Seit das Königreich vor vier Jahren für den Brexit votierte, hinkt der Leitindex FTSE 100 hinterher, ebenso, wenn auch nicht ganz so schlimm, das Segment für mittelgroße Werte, der FTSE 250, der mit dem MDAX vergleichbar ist. Der Rückstand ist verständlich, schließlich waren und sind die Unsicherheiten über die Folgen des EU-Ausstiegs nach wie vor groß. Und nichts stört Börsianer so sehr wie Unsicherheiten. Doch das dürfte sich jetzt ändern. Sollten sich die Brexit-Unterhändler auf ein Freihandelsabkommen einigen, steht wohl ein Comeback vieler Brit-Aktien bevor. Dann weiß man, worauf man sich einlässt, dann sind Risiken besser kalkulierbar.

Außerdem sind viele Weltkonzerne im internationalen und im Branchenvergleich sehr preiswert zu haben. "Britische Aktien sind gegenüber dem weltweiten Durchschnitt so günstig wie seit 50 Jahren nicht mehr, bestätigt Fondsmanager Jonathan Winton vom Geldverwalter Fidelity. Ein gutes Beispiel ist GlaxoSmithKline. Seit Astrazeneca mit seinem Corona-Impfstoff die Schlagzeilen beherrscht, ist es um den größeren britischen Rivalen stiller geworden. Mit dem Effekt, dass die Aktie laut Fondsmanagerin Laura Foll von Janus Henderson inzwischen 25 Prozent billiger ist als der globale Branchendurchschnitt. Positiv: Bei Glaxo bemüht man sich um eine Wiederbelebung der Medikamentenpipeline, was sich auf das Wachstum der kommenden Jahre beschleunigend auswirken wird.

Kein Bankenexodus

Zudem scheint jetzt schon klar, dass es in der einst so dominanten Finanzbranche nicht zu einem totalen Exodus kommt. Die Wirtschaftsprüfer von EY haben die 200 größten Finanzdienstleister untersucht und festgestellt, dass wegen des Brexits nur rund 7500 Banker-Jobs wegfallen. In London gibt es auch nach dem Brexit immer noch rund 400 000 Finanzjobs.

Daher sind auch Bankaktien interessant, etwa HSBC Holdings. Die Bank erwägt den Ausstieg aus dem Privatkundengeschäft in den USA, da der Bereich schon seit Jahren Verluste einfährt. Gelingt der Verkauf, dürfte die Bank stattdessen das lukrative Asien-Geschäft ausbauen. Schon im Februar hatte man angekündigt, dass man Geschäftsfelder zusammenlegen wird und dabei 35 000 Stellen streichen will. Und es könnte noch dicker kommen: Konzernchef Noel Quinn kündigte weitere Einsparungen an, ohne aber konkrete Ziele zu nennen. Der Wert der Aktie hat sich im Tief seit Anfang 2018 fast gedrittelt. Seit Oktober ist aber eine Stabilisierung zu erkennen.

Insgesamt rechnet die US-Investmentbank Morgan Stanley damit, dass der FTSE 100 im kommenden Jahr um 17 Prozent zulegen wird. Dabei haben nicht nur global agierende Konzerne Luft nach oben. Auch Unternehmen, die nur im Königreich tätig sind, haben Potenzial, etwa WM Morrison Supermarkets. Hier waren Umsätze und Erlöse zuletzt gestiegen - der Aktienkurs hat darauf allerdings noch nicht reagiert.

Auch Reckitt Benckiser gehört zu den Aktien mit Aufholpotenzial. Der Konzern vertreibt Reinigungsprodukte und andere Haushaltswaren. Zurzeit wird viel darüber diskutiert, ob nach dem Ende der Corona-Pandemie der Gewinn von Reckitt leiden wird, weil man bislang mit vielen Produkten von den steigenden Hygieneanforderungen profitiert. Barclays glaubt aber, dass die Gewinne 2021 positiv überraschen, denn das Unternehmen habe stark in Innovation, Marketing und Digitalisierung investiert.