An den Börsen läuft die Jahresendrally - trotz verschärften Lockdowns in Deutschland und neuer Konjunktursorgen. Die Anleger ignorieren, dass die deutsche Wirtschaft im vierten Quartal 2020 und im ersten Quartal 2021 wohl erneut in die Rezession abdriften wird. Die Aktienkurse werden vielmehr beflügelt von der Aussicht auf die EU-weite Zulassung eines ersten Corona-Impfstoffs noch vor Weihnachten.
Auch die billionenschweren Konjunkturprogramme der Regierungen, die weiter expansive Politik der Notenbanken und nicht zuletzt ein erwarteter Export- und Konsumboom im kommenden Jahr treiben den Markt an. Der DAX arbeitet sich an seinen Rekord vom Frühjahr von 13 795 Punkten heran. Der MDAX kletterte sogar erstmals über die 30 000-Punkte-Marke.
Rückschlagsrisiko steigt
"Generell haben Aktien in diesem Umfeld weiteres Kurspotenzial, wenngleich die Wahrscheinlichkeit von Rückschlägen von bis zu 20 Prozent angesichts teilweise ambitionierter Bewertungen zugenommen hat", sagt Carsten Mumm, Chefvolkswirt bei Donner & Reuschel. "Die besten Chancen haben zunächst die zyklischen, von einem Konjunkturaufschwung besonders profitierenden und exportorientierten Branchen wie Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau oder Chemie", so Mumm. "Doch auch der von der Krise noch einmal angeschobene Digitalisierungstrend dürfte sich fortsetzen und viele Technologieunternehmen unterstützen."
Bund und Länder hatten sich zu Wochenbeginn auf einen verschärften Teil-Lockdown über den Jahreswechsel verständigt. Als Folge der zweiten Corona- Welle hat das Ifo-Institut bereits seine Prognose für 2021 gesenkt. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt soll demnach noch um 4,2 Prozent wachsen, nachdem bislang mit 5,1 Prozent gerechnet wurde. Dafür hob das Institut die Vorhersage für 2022 von 1,7 auf 2,5 Prozent an. "Es verschiebt sich alles nach hinten", sagt Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. "Erst Ende 2021 wird die Produktion von Waren und Dienstleitungen ihr Vorkrisenniveau erreichen." Für 2020 rechnet das Institut mit einem historischen Einbruch von 5,1 Prozent.
Der zweite Lockdown könnte die deutsche Wirtschaft nach Meinung führender Volkswirte 40 bis 60 Milliarden Euro zusätzlich kosten und Deutschland erneut in die Rezession treiben. Die meisten Ökonomen gehen inzwischen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft nicht nur im vierten, sondern auch im ersten Quartal 2021 schrumpft.
Weil der Lockdown auf den ohnehin ruhigeren Jahreswechsel fällt, könnten die Folgen für die Wirtschaft allerdings glimpflicher ausfallen als im Frühjahr, erwartet etwa das IfW Kiel. Inwieweit die deutsche Wirtschaft dann im Frühjahr zulegen kann, steht und fällt laut IfW-Präsident Gabriel Felbermayr mit den Impfungen: "Der Impfstoff ändert alles." Im Schnitt rechnen Ökonomen für 2021 weiterhin mit einem Wachstum der deutschen Wirtschaft von drei bis vier Prozent.
Derweil hat sich die Wirtschaft in der Eurozone im Dezember wieder gefangen. Der Einkaufsmanagerindex (Industrie und Dienstleister) stieg laut Informationsdienst IHS Markit um 4,5 Punkte auf 49,8 Zähler. Damit liegt dieses Barometer wieder nahe an der Wachstumsschwelle von 50 Zählern.
Barometer mit Perspektive
Dieser Trend schlägt sich auch im Ökonomen-Barometer von €uro am Sonntag im Dezember nieder. Zwar bricht der Barometerwert zur aktuellen Lage um acht Prozent auf 32,7 Punkte ein. Die Aussichten für die kommenden zwölf Monate können aber um 3,7 Prozent auf 38 Punkte zulegen. Der wachsende Abstand zwischen Stand und Prognose zeigt, dass die Ökonomen mit einer deutlichen wirtschaftlichen Belebung rechnen.
So sieht es beispielsweise Bantleon-Chefvolkswirt Daniel Hartmann - falls sich die Impfstofferwartungen erfüllen und die Pandemie bis zum Sommer abebbt, wie er einschränkt. "Allen voran sollte es zu einem Konsumboom kommen. Das größte Problem wird daher sein, rechtzeitig für größere Kapazitäten zu sorgen, um dem Nachfrageansturm Herr zu werden", glaubt Hartmann.
Ökonomen wie Klaus Schrüfer von der Santander Bank weisen darauf hin, dass es im Zuge dieser Entwicklung auch wichtig sein wird, den richtigen Zeitpunkt zu finden, die staatlichen Unterstützungsprogramme wieder zurückzufahren. RWI-Experte Boris Augurzky bringt es auf diesen Nenner: "Rückführung der Kurzarbeit, Verkraften von Insolvenzen, Anpassung an ein möglicherweise dauerhaft verändertes Konsumverhalten." Vor allem sogenannte Zombie- Unternehmen sollten demnach den Markt verlassen.
Themen wie Digitalisierung und erneuerbare Energien, Umwelt- und Klimaschutz rücken dagegen für viele Ökonomen wieder in den Vordergrund. Aber auch die Handelsbeziehungen zu den USA sollten auf eine neue Grundlage gestellt werden. "Der internationale Wettbewerbsdruck wird härter und politischer, auch unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden", warnt etwa Wilfried Fuhrmann von der Uni Potsdam.