Trotz Zins- und Zollsorgen sieht der Fundstrat-Stratege einen massiven Anstieg für die Börsen – weil zu viele Investoren nicht daran glauben.

Es wirkt fast wie ein Déjà-vu aus der Frühphase der Corona-Erholung oder der KI-Rallye 2023: Während viele Anleger auf die Bremse treten und in politischen Risiken oder Anzeichen für Konsumschwäche potenzielle Crash-Auslöser wittern, malt Tom Lee bereits das nächste bullische Szenario an die Wand. Der Mitgründer des Analysehauses Fundstrat und langjährige Wall-Street-Stratege warnt im Gespräch mit CNBC nicht etwa vor Übertreibung – sondern vor zu wenig Euphorie.

„Viele glauben, der Markt sollte gar nicht steigen – und genau das ist das Problem“, sagt Lee. In seinen Gesprächen mit Fondsmanagern zeige sich derzeit ein frappierendes Bild: „Zu viele sitzen noch auf Cash. Die Short-Quoten steigen, obwohl die Indizes zulegen. Und das in einer Woche ohne nennenswerte Impulse.“ Für Lee ist das ein klassisches Setup für das, was Wall-Street-Veteranen einen „Melt-up“ nennen – also eine plötzliche, durch FOMO (Fear of Missing Out) getriebene Kursrallye.

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Zölle? Kein Showstopper mehr

Dabei gibt es aus Sicht vieler Marktteilnehmer durchaus Grund zur Zurückhaltung: Die neuen Zollforderungen von Ex-Präsident Donald Trump könnten bei einem Wahlsieg Realität werden – und zu einer Belastung für Importe, Margen und Konsum führen. 

Doch Lee wiegelt ab: Selbst wenn am Ende ein durchschnittlicher Zollsatz von zehn Prozent auf relevante Importe käme, entspräche das einem Wachstumsdämpfer von rund einem Prozent des BIP – vergleichbar mit einem Anstieg des Ölpreises von 40 auf 80 Dollar. „Das bringt die Wirtschaft heute nicht mehr aus dem Tritt“, so Lee.

Politischer Lärm als Einstiegschance

Auch Diskussionen um das neue Steuerpaket, Elon Musks politische Manöver oder mögliche Haushaltsblockaden in Washington bewertet der Fundstrat-Analyst eher als taktische Risiken denn als strategische Gamechanger. „Natürlich ist das ein klassisches Event Risk, vergleichbar mit einem Government Shutdown oder einem Streik in den Autowerken. Aber solche Ereignisse waren in der Vergangenheit fast immer Kaufgelegenheiten.“

Selbst wenn das geplante Steuerpaket am Ende kleiner ausfällt als gedacht, sieht Lee Spielraum für positive Marktreaktionen: „Sollten Anleihen steigen, wäre das gut für Aktien. Und wenn die Maßnahme zu höheren Unternehmensgewinnen führt, werden Investoren das honorieren – auch bei leicht steigenden Renditen.“

Jamie Dimon warnt – doch Lee bleibt gelassen

Besonderes Augenmerk gilt derzeit dem Anleihemarkt und den mahnenden Worten von JP-Morgan-Chef Jamie Dimon, der jüngst vor „Rissen im System“ sprach. 

Doch Lee sieht keine unmittelbare Gefahr: „Ja, Konsum- und Autokredite zeigen steigende Ausfallraten. Aber der High-Yield-Markt hält sich robust – ein klares Zeichen dafür, dass keine akute Kreditkrise droht.“ Die Spreads in diesem Segment hätten sich zu 70 Prozent wieder normalisiert – ein „bullishes Signal“.

Immobilien als deflationärer Joker

Ein weiterer, oft übersehener Faktor in Lees Argumentation: der US-Immobilienmarkt. Dessen Schwäche sei nicht nur ein Indikator für Konsumzurückhaltung, sondern auch eine deflationäre Kraft. „75 Prozent des Inflationsanstiegs seit 2019 gingen auf Wohnkosten und Autodienstleistungen zurück. Wenn die Preise nun wegen Angebotsausweitung fallen, wirkt das dämpfend – und könnte der Fed früher Spielraum für Zinssenkungen geben.“


Während viele Investoren auf fallende Kurse wetten oder an der Seitenlinie warten, sieht Tom Lee tatsächlich das ideale Szenario für einen plötzlichen Kursschub. Sein Argument: Der Markt steigt trotz schlechter Nachrichten – weil zu viele noch nicht dabei sind. Historisch gesehen war das oft der Treibstoff für die heftigsten Anstiege. Wer jetzt verkauft, könnte dem nächsten Bullenritt nur noch hinterherschauen.

Infront S&P 500 (WKN: A0AET0)