Die 4-Prozent-Regel gilt als Herzstück von FIRE. Doch Szenarien, Risiken und flexible Modelle zeigen: Finanzielle Freiheit ist kein starres Rechenmodell.

Die Faszination von FIRE lebt nicht nur vom Traum nach Freiheit, sondern auch von der Klarheit einer simplen Formel. Der entscheidende Baustein ist die Entnahmeregel: Wie viel Kapital lässt sich jedes Jahr aus dem Depot entnehmen, ohne dass das Vermögen vorzeitig aufgezehrt wird? Die berühmte 4-%-Regel gilt als Standard – doch sie ist kein Naturgesetz, sondern eine Annäherung. Wer den Rechenweg und seine Risiken versteht, kann FIRE realistischer planen.

Die 4-Prozent-Regel und ihre Varianten

Die Grundlage stammt aus der Trinity-Studie der 1990er-Jahre. Die Forscher analysierten historische Daten von Aktien- und Anleiheportfolios und errechneten, wie lange ein Depot durchhält, wenn man jedes Jahr einen festen Prozentsatz entnimmt. Ihr Ergebnis: Mit einer Entnahmerate von vier Prozent war es in der Vergangenheit sehr wahrscheinlich, mindestens 30 Jahre lang aus dem Portfolio leben zu können – selbst in schwierigen Marktphasen.

Doch schon damals war klar, dass es sich um ein Modell handelt und nicht um eine universelle Wahrheit. Deshalb haben sich mit der Zeit verschiedene Varianten herausgebildet. Manche FIRE-Anhänger setzen konservativ auf 3,5 Prozent, um die Überlebenswahrscheinlichkeit des Depots zu erhöhen – gerade in Zeiten niedriger Zinsen oder hoher Bewertungen. Andere halten an den klassischen vier Prozent fest, während optimistischere Investoren auch fünf Prozent für realistisch halten, in der Hoffnung auf dauerhaft hohe Aktienrenditen. Der Preis dafür ist ein deutlich höheres Risiko, dass das Kapital in langen Bärenmärkten zu schnell abschmilzt.

Rechenbeispiele: Wie viel Vermögen ist genug?

Greifbar wird die Theorie erst, wenn man sie in Zahlen übersetzt. Wer etwa 500.000 Euro Vermögen aufgebaut hat, kann bei einer konservativen Entnahmerate von 3,5 Prozent rund 17.500 Euro jährlich entnehmen, also knapp 1.460 Euro pro Monat. Bei vier Prozent sind es 20.000 Euro pro Jahr, was einem monatlichen Einkommen von 1.670 Euro entspricht. Optimisten, die mit fünf Prozent kalkulieren, könnten sich 25.000 Euro jährlich auszahlen lassen – also gut 2.080 Euro pro Monat.

Verdoppelt man das Vermögen auf eine Million Euro, verdoppeln sich auch die Spielräume. Mit 3,5 Prozent stehen rund 35.000 Euro im Jahr oder 2.920 Euro im Monat zur Verfügung, bei vier Prozent sind es 40.000 Euro beziehungsweise 3.330 Euro im Monat. Wer fünf Prozent entnimmt, kann mit 50.000 Euro jährlich oder rund 4.170 Euro monatlich rechnen.

Noch deutlicher wird der Unterschied bei 1,5 Millionen Euro Kapital. Hier ergeben sich bei 3,5 Prozent Entnahme 52.500 Euro jährlich, also 4.375 Euro pro Monat. Die klassische 4-%-Regel liefert 60.000 Euro oder 5.000 Euro im Monat, und wer das Risiko einer 5-%-Strategie eingeht, kann sich 75.000 Euro im Jahr, also 6.250 Euro monatlich, auszahlen lassen.

Die Bandbreite dieser Zahlen macht deutlich: Die Entnahmeregel ist weit mehr als eine theoretische Spielerei. Sie entscheidet über Lebensstil, Sicherheit und die notwendige Höhe des Startkapitals.

Risiken und Unsicherheiten

Doch so klar die Rechnung auf den ersten Blick wirkt, so tückisch sind die Unwägbarkeiten. Ein zentrales Risiko ist das sogenannte Sequenz-of-returns-Risiko: Gerät man gleich zu Beginn der Entnahmephase in einen Bärenmarkt, muss man Verluste realisieren, bevor das Depot Zeit hat, sich zu erholen. Selbst bei vermeintlich sicheren vier Prozent kann dies das gesamte Modell ins Wanken bringen.

Auch Inflation ist ein Dauerproblem. Ein Entnahmebudget von 40.000 Euro im Jahr mag heute komfortabel sein, verliert aber über zwei Jahrzehnte massiv an Kaufkraft, wenn die Preise steigen. Hinzu kommt die Steuerlast, die in Deutschland durch die Abgeltungssteuer einen nicht zu unterschätzenden Teil der Erträge abschöpft. Wer seine Planung auf Bruttowerte stützt, wird im Alltag schnell eine Lücke spüren. Schließlich spielt auch die Langlebigkeit eine Rolle: Die Trinity-Studie rechnete mit 30 Jahren. Doch wer FIRE schon mit 40 erreicht, muss möglicherweise 50 Jahre finanzieren.

Flexible Entnahmemodelle

Um diese Risiken abzufedern, greifen viele FIRE-Anhänger auf flexiblere Modelle zurück. Ein Ansatz ist die variable Entnahme, bei der jedes Jahr neu festgelegt wird, welcher Prozentsatz des Depots entnommen wird – abhängig von der Entwicklung der Märkte. In guten Jahren ist so mehr möglich, in schlechten Jahren wird die Entnahme reduziert.

Beliebt ist auch die sogenannte Guardrails-Methode: Dabei werden obere und untere Grenzen für das Vermögen definiert. Fällt das Depot unter einen bestimmten Wert, wird die Entnahme gedrosselt. Steigt es dagegen deutlich, erlaubt man sich mehr. Manche kombinieren schließlich fixe Basisbeträge mit variablen Zusatzausgaben, etwa für Reisen oder größere Anschaffungen – ein Hybridmodell, das den Alltag planbar macht und dennoch Flexibilität zulässt.

Die Mathematik hinter FIRE ist zugleich faszinierend und trügerisch. Die 4-Prozent-Regel liefert eine klare Orientierung, darf aber nicht blind übernommen werden. Wer FIRE ernsthaft anstrebt, muss mit Szenarien rechnen, konservative und optimistische Varianten durchspielen und zugleich flexibel bleiben. Am Ende ist die Zahl nicht in Stein gemeißelt – sie ist ein Werkzeug, das hilft, die größte Währung von allen zu sichern: Zeit und Freiheit.

Mehr über die FIRE-Journey lesen Sie an dieser Stelle immer am Sonntag. In der Serie ist bisher erschienen: 

1.) FIRE: Der Traum von der finanziellen Unabhängigkeit – das steckt hinter dem Investment-Megatrend

2.) FIRE: Warum finanzielle Freiheit vor allem Millennials und die Gen Z so stark anspricht

3.) FIRE: Der Weg zur finanziellen Freiheit – Sparen ohne Askese