Er war ein Zeitgenosse von Unternehmern wie Werner Siemens, Alfred Krupp, Carl Linde, Gottlieb Daimler oder Rudolf Diesel. Und was die Bedeutung seiner Firmen betraf, spielte er in derselben Liga. In zahlreichen Unternehmen wie dem Hochspannungsspezialisten Ganz Transelektro oder der Leobersdorfer Maschinenfabrik lebt sein Erbe auch heute noch weiter. Doch der Firmengründer Abraham Ganz selbst ist praktisch vergessen. Dabei deckte er mit seinem Beteiligungsportfolio so ziemlich alle Branchen ab, die in der Industrialisierung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle einnahmen.

Das Sprichwort "Lehrers Kinder, Pfarrers Vieh, gedeihen selten oder nie" traf auf Abraham Ganz jedenfalls nicht zu. Der 1814 geborene Sohn des armen Dorflehrers von Embrach im Kanton Zürich machte nach der Schule aus Geldnot zuerst eine Lehre beim örtlichen Schreiner. Doch die Arbeit war dem jungen Abraham bald zu provinziell, und so erlernte er noch das Gießereihandwerk bei Escher, Wyss & Cie. in Zürich. Die Branche boomte damals, Spezialisten wie Ganz waren überall gefragt, und der junge Eidgenosse machte sich auf Wanderschaft durch halb Europa, fand schließlich 1841 eine Anstellung als Mechaniker bei der Gießerei der Josefsmühle im ungarischen Pest. Die industriell geprägte Stadt an der Donau war damals noch nicht mit dem eher bürgerlichen Buda auf der andern Seite des Stroms verbunden, und Ungarns Hauptstadt war zu dieser Zeit noch Pressburg, das heutige Bratislava in der Slowakei.

Bald war Abraham Ganz wegen seiner Fertigkeiten und seines Ehrgeizes Leiter der Gießerei, die mit einer neuen Technologie verschiedene Metalle verbinden und besonders reine Gussstücke herstellen konnte. Als 1843 Abrahams Bruder Konrad, inzwischen ebenfalls Gießer in der Josefsmühle, bei einem Arbeitsunfall auf einem Auge erblindete, soll Ganz das nur trocken kommentiert haben: "Ein Auge ist verloren, aber der Guss war erfolgreich."

1844 kaufte Abraham Ganz ein Haus und ein Grundstück in Buda und errichtete dort seine eigene Gießerei. Die ersten Produkte waren hauptsächlich Öfen, die in den wohlhabenden Haushalten der Donaumetropole sowie in Wien reißenden Absatz fanden. Ein Jahr später kaufte er das Nachbargrundstück und erweiterte das Werk, für die wachsende Verwaltungsarbeit holte er seinen Bruder Henrik aus der Schweiz. Weil sich für die 1846 gebaute Eisenbahnlinie Pest-Vác eine große Nachfrage nach Waggons entwickelte, stellte Ganz nun auch Wagenräder her. Dazu nutzte er die von dem Engländer John Burn erfundene und in den USA entwickelte Methode des Kokillengießens, mit der die Räder härter und verschleißfester wurden als die der Konkurrenten auf dem europäischen Festland.

Während der ungarischen Revolution von 1848 bis 1849 stellte die Ganz’sche Gießerei auch Kanonen und Kanonenkugeln für die Unabhängigkeitsbewegung her. Kein schlechtes Geschäft. Doch auch ohne die Zusammenarbeit mit der ungarischen Landwehr war Ganz längst ein wohlhabender Bürger und ehelichte standesgemäß die Tochter des Stadtrichters von Buda, Jozefa Heiss. Vier Tage nach seiner Hochzeit aber, nach Niederschlagung des Aufruhrs, wurde Ganz bei seiner ersten Ausfahrt mit der jungen Gattin verhaftet, vor einem österreichischen Militärgericht angeklagt und für sieben Wochen ins Gefängnis geworfen. Schließlich konnte er die Habsburger davon überzeugen, dass er zur Waffenfertigung gezwungen worden und als Schweizer ohnehin der dauernden Neutralität verpflichtet sei. Er bekam seinen beschlagnahmten Besitz zurück und stürzte sich wieder in die Arbeit.

Der Aufschwung der Ganz’schen Firma ging weiter. Einen ordentlichen Anteil daran hatte ein neuer technischer Leiter, der gebürtige Augsburger Andreas Mechwart. Der entwickelte ein Vermahlungssystem mit Hartschalenwalzen für einen neuen Getreidemühlentyp, der die traditionellen Wasser- und Windmühlen schon bald ablösen sollte. Ein für die Branche dramatischer Umbruch. Genannt wurden diese neuen, meist dampfbetriebenen Mahlwerke "Kunstmühle" - wegen der darin reichlich enthaltenen Ingenieurskunst.

Abraham Ganz schaffte 1853 den Durchbruch zum Großindustriellen neben der Mühlentechnik vor allem durch die Produktion eines besonders langlebigen Rades für Eisenbahnen. Möglich wurde dies durch seine Weiterentwicklung des Kokillengießens. Das Wesen seines Prozesses beschreibt er wie folgt: "Um einen harten Guss, die so genannte Gusskruste, zu erhalten, verwenden wir als Hauptausrüstung Antimon. Wir mahlen es winzig klein und machen Farbe oder Puppen daraus. Damit bedecken wir die Wände der Gussform, trocknen sie und ziehen sie dann zusammen. Schließlich erhitzen wir es auf 100 Grad, und das flüssige Eisen wird in die Form gegossen. An der Stelle, an der die Formwände mit diesem Material beschichtet werden, bildet sich eine glasharte Kruste, die - je nachdem, ob die Wand der Abdeckung dünner oder dicker ist - zwei, drei oder vier Millimeter dick ist. Deshalb habe ich Antimon als bestes Material für die Herstellung gefunden ..."

Das Eisenbahnrad brachte Ganz nicht nur immenses Vermögen, sondern auch höchstes Ansehen ein. 1863 verlieh ihm Kaiser Franz Joseph I. das Goldene Verdienstkreuz, 1865 den Leopold-Orden. Auch ein von Ganz entwickeltes Weichensystem aus Krustenguss setzte bei Eisenbahnen neue Maßstäbe. Und die Ganz-Gießereien stellten längst nicht mehr nur Öfen oder Bahnmaterial her, sondern lieferten auch Teile für den Brückenbau, die bis heute die Querung von etlichen Flüssen in Mitteleuropa ermöglichen.

In Abraham Ganz’ Privatleben lief es hingegen weniger erfolgreich. Da er mit seiner Frau Jozefa keine Kinder haben konnte, adoptierten sie zwei verwandte Waisenmädchen. Zwar wurde Abraham Ganz zum Ehrenbürger der Stadt ernannt, doch weil er nie Ungarisch gelernt hatte - in all seinen Unternehmen wurde nur Deutsch gesprochen - fehlten die Verbindungen zur besseren Gesellschaft der Stadt. Ganz gab immense Summen für soziale Zwecke aus, führte für seine Mitarbeiter einen Renten- und Patientenfonds ein und wurde dafür bewundert und geschätzt. Doch er selbst wurde immer schwermütiger, vor allem weil "alle seine Brüder verrückt wurden", wie es in zeitgenössischer Literatur heißt. Aus Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden, beging Abraham Ganz nach dem Tod seines Bruders Konrad am 15. Dezember 1867 Selbstmord.

Nach Ganz’ Tod führte Andreas Mechwart das Unternehmen weiter, war in der Maschinen-, Fahrzeug- und Elektroindustrie mit weltberühmten Erfindungen und technischen Lösungen tätig. Es war das Unternehmen Ganz, das Ungarns erstes Automobil baute, die Firma war an Büssing aus Braunschweig oder Fiat in Turin beteiligt und hatte für die Elektrifizierung Europas einen äußerst erfolgreichen Transformator entwickelt. Auch die erste U-Bahn in Festlandeuropa fuhr mit Ganz-Technik. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber wurden die Ganz-Werke von den Kommunisten verstaatlicht.

Jozefa Ganz starb 1913. Die beiden Adoptivtöchter hatten sich von Mechwart auszahlen lassen, übersiedelten mit ihrem Vermögen in die Schweiz und sollen nie geheiratet haben.