Küchentisch statt Wartezimmer, Mausklick statt Händedruck - der Besuch beim Arzt wird digital. Ob eine Erstbehandlung wegen Unwohlseins oder eine Konsultation für ein chronisches Leiden: Immer mehr Menschen in Deutschland vertrauen sich ihrem Arzt online an. Auslöser für den Boom ist die Corona-Krise. Aus Angst vor Ansteckungen nutzen Tausende Patienten, für die das zuvor keine Option war, die Telemedizin. So hatte noch im Mai 2020 eine Umfrage des Analysehauses EPatient ergeben, dass lediglich zwei Prozent aller Arztbesuche online stattfinden. "Ernüchternd" fand das Studienleiter Alexander Schachinger.

Doch je länger die Corona-Zeit dauert, desto mehr lassen die Menschen offenbar ihre Vorbehalte gegen die Onlinemedizin fallen. So sprang der Anteil derjenigen, die schon einmal eine Videosprechstunde in Anspruch genommen haben, laut einer Bitkom-Umfrage von acht Prozent im Mai auf 13 Prozent im Juli. Damit sei die Nachfrage für den digitalen Besuch beim Arzt aufseiten der Patienten so hoch wie noch nie, konstatiert der Digitalisierungsverband.

Und auch die Mediziner selbst ziehen mit. 25000 zumeist niedergelassene Allgemein- und Fachmediziner bieten in Deutschland mittlerweile Videosprechstunden an - entweder über eine Internetkonferenz in der Praxis oder ein Portal wie die Plattform Teleclinic. Dort stehen 220 Ärzte für die Patienten bereit. Mediziner und Patienten müssen in diesem Fall für das digitale Rendezvous nur eine Anwendung auf ihren Smartphones installieren. Ärzte könnten mit der Onlinevisite ein Zusatzeinkommen von 3000 Euro im Monat generieren, wirbt Teleclinic bei Medizinern fürs Mitmachen. Noch nutzen die Patienten die Plattformen jedoch kaum. 97 Prozent der Patienten, die sich im Internet ärztlich behandeln lassen, besuchen dafür "ihren" Arzt. Doch das Potenzial für die Portale ist groß. Einen Termin gibt es oft innerhalb eines Tages, während das beim Hausarzt schon mal Wochen dauern kann.

Die Pandemie schiebt an. Im Zuge von Corona haben auch die Krankenkassen ihre Zurückhaltung gegenüber der Telemedizin aufgegeben. So einigten sich der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Frühjahr darauf, dass Mediziner Videosprechstunden unbegrenzt über das Internet anbieten und abrechnen können, zumindest wenn der Patient einmal pro Quartal auch physisch in der Praxis erscheint. Zuvor galten hier starke Beschränkungen, und nicht jede Fachrichtung konnte die Onlinevisite in Rechnung stellen. Noch ist die Videobehandlung ohne Grenzen zeitlich befristet, denn "der Goldstandard in der Patientenversorgung ist der physische Kontakt", so der KBV. Doch ein Zurück auf das Vor-Corona-Niveau wird es kaum mehr geben.

Zumal Deutschland bei der Telemedizin ohnehin im internationalen Vergleich deutlich zurückliegt. In den USA nutzen laut einer Umfrage des Telemediziners Avizia immerhin schon 18 Prozent das digitale Angebot. Auch in Kanada ist das Interesse höher als in Deutschland. Das hat auch damit zu tun, dass dort in abgelegenen Regionen der digitale Arzt der Einzige ist, der im Notfall schnell verfügbar ist. Das Angebot werde von den Ureinwohnern Inuit in den nördlichen Territorien mit offenen Armen angenommen, freut sich InTouch Health, eine Tochter des weltweit größten Telemedizinanbieters Teladoc.

Die Sorge vor Corona ebnet derweil in Deutschland auch anderen digitalen Veränderungen den Weg. Gesundheits-Apps, die persönliche Fitnessdaten aufzeichnen und Ernährungsvorschläge machen, sind schon länger im Trend. Mit der Corona-Warn-App haben nun aber Millionen von Deutschen erstmals überhaupt eine Gesundheits-App im weitesten Sinne auf ihr Mobiltelefon geladen.

Das dürfte auch die Hemmschwelle für die neuen Apps auf Rezept abbauen. Das sind "digitale Gesundheitsanwendungen", die Ärzte und Psychiater Patienten verordnen können - zum Beispiel abgestimmte Therapien, die von den Patienten Schritt für Schritt mithilfe ihres Smartphones befolgt werden. Jede dieser Apps benötigt eine Genehmigung durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte. Dann stehen sie im Prinzip allen der mehr als 70 Millionen Versicherten in den gesetzlichen Krankenkassen auf Rezept offen: ein Riesenmarkt für die meist noch kleinen App-Entwickler.

Mit der elektronischen Patientenakte haben Versicherte ab 2021 zudem die Möglichkeit, wesentliche gesundheitsrelevante Daten wie Therapien, Diagnosen und Impfungen digital zu vereinen. Damit kann jeder Arzt die gesamte Krankheitsgeschichte seines Patienten ohne viele Fragen nachvollziehen und so im Zweifel schneller und zutreffendere Diagnosen stellen.

Vernetzt. Basis der steigenden Vernetzung der Gesundheitswelt ist die Telematik-Infrastruktur. An dieses eigens für den Gesundheitssektor entwickelte Datennetz waren nach Auskunft der Bundesregierung Ende August 144000 und damit der Großteil aller Ärzte und Zahnärzte in Deutschland angeschlossen. Krankenhäuser und Apotheken sollen im zweiten Halbjahr 2020 folgen.

Die Digitalisierung ist dabei nicht auf Ärzte und Kliniken beschränkt. "Technisch wird man jeden Haushalt so mit Sensoren ausrüsten können, dass automatisch ein regelmäßiger Gesundheitscheck stattfindet, ohne dass es den Menschen in seinem Leben stört. Ist dann eine Krankheit im Anflug, empfiehlt das System im Idealfall die richtigen Maßnahmen und bestellt zum Beispiel automatisch die richtigen Medikamente", sagt Jan Stallkamp. Er ist Leiter der Fraunhofer-Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie in Mannheim und Inhaber des einzigen deutschen Lehrstuhls in dieser Disziplin. Ziel sei es zu messen und dank der Vernetzung und des Zugriffs auf alle notwendigen medizinischen Daten sofort zu wissen, was der Patient hat.

Doktor Roboter. Das klingt zwar nach Science-Fiction und mag auch Stirnrunzeln bei Datenschützern auslösen. Doch eine fortschreitende Digitalisierung ist laut Stallkamp die Voraussetzung dafür, dass neueste Medizintechnik etwa in den Krankenhäusern zum Einsatz kommen kann. "Automatisierung ist der Schlüssel, um Eingriffe beim Menschen effizient, schnell und präzise durchzuführen." Zum Beispiel mit Robotern im OP, wie sie sein Institut entwickelt. Der Roboter arbeite prinzipiell schneller und präziser, als ein Mensch es könne, wenn es darum geht, nach einer Bilduntersuchung den vom Arzt ermittelten Punkt zur Entnahme einer Gewebeprobe am Körper exakt zu finden. Setzt sich der Roboter durch, könnten mehr Patienten als bisher solche medizinischen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Was er bisher nicht kann: die eigentliche Operation durchführen. Dafür brauche es noch den Arzt mit seiner Intuition und Erfahrung, so Stallkamp. Mittelfristig aber werde der Roboter bei der OP immer autonomer arbeiten, bis er eines Tages von selbst erkennt: "Das ist eine Tumorzelle und die entferne ich jetzt." Voraussetzung ist, dass die Roboter mit allen notwendigen Echtzeitdaten über Patient und Krankheitsbilder gefüttert werden. Außerdem erfordere der selbstständige Roboter auch Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz. So weit sei die Welt aber bisher noch nicht (siehe Interview).

Sehr wohl heute schon ein wichtiges Thema ist die Sicherheit. Denn je mehr sensible Daten der Patienten erfasst werden, desto intensiver müssen Maßnahmen sein, sie zu schützen. Wie wichtig diese Frage ist, macht die Tatsache deutlich, dass Ermittlungsbehörden wie Interpol und auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie in der Corona-Krise verstärkte Hackerangriffe auf Krankenhäuser beobachten.

Gesunde Investments. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet auch Anlegern gute Aussichten. Noch steht dieser Trend ziemlich am Anfang, das Potenzial ist aber groß. €uro hat deshalb fünf Unternehmen herausgepickt, die es Anlegern ermöglichen, vom Trend zu Telemedizin und Co zu profitieren. Zwar sind diese Aktien nicht mehr günstig bewertet, aber angesichts der aussichtsreichen Perspektiven dennoch ein attraktives Investment.


€URO-EMPFEHLUNGEN

 

Cerner-Aktie


Cerner entwickelt Softwarelösungen, um Daten rund um Patienten, Krankheiten und Medikamente zusammenzuführen und auszuwerten. Zu den Kunden der Firma aus Kansas City zählen Krankenhäuser, Labors, Blutbanken und die pharmazeutische Industrie. Zehn Prozent des Umsatzes macht Cerner zudem mit der US-Regierung, etwa mit dem Verteidigungsministerium. Neben Softwarelizenzen besteht das Hauptgeschäft (über 50 Prozent des Umsatzes) aus dem profitablen und margenstarken IT-Service. Trotz Corona steigerte Cerner im ersten Halbjahr den Gewinn je Aktie. Im Zuge wachsender Gesundheitsausgaben in den USA verspricht die Digitalisierung laut Cerner sinkende Kosten. Die Firma könnte damit von einem Wahlsieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden profitieren, der die Politik Obamas einer Krankenversicherung für alle wieder vorantreiben will.

Compugroup Medical-Aktie


Die von Informatiker und Chef Frank Gotthardt gegründete Compugroup ist auf die Entwicklung margenstarker IT im Gesundheitswesen spezialisiert. Umsatzstärkster Bereich sind Systeme für niedergelassene Ärzte und Zahnärzte. Dazu zählen Praxismanagementsoftware und elektronische Patientenakten. Die Koblenzer bieten außerdem Ärzten eine Lösung für Videosprechstunden an. Auch wichtig im Portfolio: IT-Systeme für Apotheken, unter anderem um gefälschte Medikamente erkennen zu können. Um das noch kleine Segment mit Kliniken zu stärken, hat Compugroup vom US-Wettbewerber Cerner das Geschäft mit Krankenhausinformationssystemen übernommen. Außerdem ein Plus: Compugroup mischt im wichtigen IT-Sicherheitsgeschäft mit. Damit ist die Firma, die sich 2020 bisher stabil entwickelt, breit aufgestellt und sollte klar vom Trend zu Telemedizin und Digitalisierung profitieren.

Intuitive Surgical-Aktie


Intuitive Surgical mit Sitz in Kalifornien ist ein Pionier für Roboter im Operationssaal. Die Maschinen mit dem Markennamen da Vinci unterstützen Chirurgen bei minimalinvasiven Eingriffen. Dabei geht es um Operationen in den Bereichen Gynäkologie, Urologie, Herz sowie Kopf und Nacken. Ergänzt wird das Portfolio durch eine Vielzahl von klassischen Instrumenten wie etwa Skalpellen. Die Produkte der bis dato vor allem in den USA aktiven Firma sind seit 2018 verstärkt auch in deutschen und japanischen Krankenhäusern im Einsatz. Umsatz und Ertrag expandieren seit Jahren kontinuierlich. 2019 kletterte die Nettogewinnmarge auf 30 Prozent. Zwar schmälerte die Corona-Krise im ersten Halbjahr 2020 die Geschäfte. Doch mittelfristig ist Intuitive Surgical ein Profiteur der Automatisierung in der Medizin. Für die Aktie spricht außerdem, dass der hohen Liquidität kaum Schulden gegenüberstehen.

Secunet-Aktie


Die Digitalisierung im Gesundheitswesen braucht hohe Sicherheitsstandards, um sensible Patientendaten vor Hackern zu schützen. Zentraler Anbieter solcher Lösungen in Deutschland ist IT-Security-Spezialist Secunet. Das Unternehmen sichert auch die Telematikinfrastruktur im deutschen Gesundheitswesen. Außerdem bietet Secunet ITSchutz für kritische Infrastrukturen wie Kraftwerke für Konzerne wie RWE an. Zu den größten Kunden der Tochter des Münchner Banknoten-Spezialisten Giesecke + Devrient gehören aber Bund und Länder, die sich vor Angriffen aus dem Netz verlässlich schützen müssen. Dieser Status als Sicherheitsanbieter der Bundesregierung macht die Aktie angesichts des weiterhin hohen Bedarfs an Cybersecurity zu einem Top-Pick - auch wenn sie in diesem Jahr schon von Rekord zu Rekord eilte. Zuletzt trieben sehr gute Halbjahreszahlen (40 Prozent Gewinnplus) den Kurs.

Teladoc-Aktie


Teladoc, der weltgrößte Telemedizinkonzern, bietet medizinische Beratung über Telefon und Computer in 175 Ländern an. Das umfasst Allgemeinmedizin und eine Vielzahl von Fachrichtungen. In den vergangenen fünf Jahren haben sich die kostenpflichtigen Besuche auf den Teladoc-Plattformen auf zuletzt 4,1 Millionen pro Jahr verachtfacht. Daneben hat das Unternehmen aus New York eine Reihe von Gesundheits-Apps auf dem Markt. Anfang August kündigte die Firma den Zusammenschluss mit Wettbewerber Livongo für mehr als 15 Milliarden Euro an. So hat Teladoc nun auch digitale Angebote und Apps für chronische Krankheiten wie Diabetes, aber auch Übergewicht im Portfolio. Die Firmen versprechen sich bis 2025 Synergien von 500 Millionen Dollar. Damit sollte Teladoc die Profitabilität in dem boomenden Markt steigern können. Das bietet auch der nicht mehr ganz billigen Aktie Potenzial.


Interview Jan Stallkamp, Professor für Automatisierung in der Medizin, Uni Mannheim

"Der Schlüssel zur Zukunft der Gerätemedizin"

€uro: Herr Stallkamp, wie weit ist die künstliche Intelligenz (KI) in der Medizintechnik?

Jan Stallkamp: Wir bringen gerade einem Roboter bei, einen Katheter ins Gehirn zu schieben. Das funktioniert im Experiment schon ganz gut. Damit er das aber eines Tages im klinischen Alltag durchführen kann, brauchen wir künstliche Intelligenz. Doch auf viele Fragen haben wir noch keine Antwort. Wer das aber in den Griff bekommt, hat den Schlüssel zur Zukunft der Gerätemedizin in der Hand.

Wie kommt die Technik in Kliniken?

Ganz wesentlich für die Anwendung von KI in den Kliniken ist die durchgängige Digitalisierung. Dazu zählt, dass Patienten- und Ablaufinformationen an verschiedenen Stellen automatisch erhoben, vernetzt und zugänglich sind. Das ist die Voraussetzung, damit die künstliche Intelligenz überhaupt eines Tages ihre Wirkung entfalten kann.

Was tut die Wirtschaft dafür?

Große Konzerne zeigen sich abwartend. Um das Entwicklungsrisiko zu umgehen, werden sie erst dann einsteigen, wenn andere fertige Entwicklungen präsentieren. Das erschwert die Innovation, weil die meisten Entwickler kleinere oder mittlere Firmen mit wenig Kapital sind, um solche komplexen Entwicklungen, wie sie für KI heute erforderlich sind, zu stemmen.