Mit 18 Jahren inspizierte Mary Barra Motorhauben und Stoßstangen des Pontiac Grand Prix in der Pontiac-Fabrik in Michigan, um ihr Studium zu finanzieren. Beim Mutterkonzern General Motors (GM) stieg sie von der Ingenieurin zur Fabrikleiterin auf, leitete später die Produktentwicklung. 2014 wurde sie zur Vorstandschefin (CEO) von GM ­berufen. "Die gläserne Decke hat für mich nie existiert", sagt sie. Dass sie nach ihrer Berufung ständig mit der Frage konfrontiert wurde, wie es sich anfühle, als Frau den Chefposten - noch dazu eines Autokonzerns - innezuhaben, habe sie deshalb überrascht, erzählte Barra 2017 dem amerikanischen Finanzier ­David Rubenstein in einem Interview. "Das ist eine Frage, die häufiger gestellt wird, als sie gestellt werden sollte."

Denn Barra ist nicht die einzige Frau auf dem Chefsessel eines amerikanischen Großunternehmens: Seit 2012 steht Ginni Rometty dem IT-Riesen IBM vor, Marillyn Hewson leitet den Rüstungskonzern Lockheed Martin, Indra Nooyi führte bis zum Oktober vergan­genen Jahres zwölf Jahre lang die Geschäfte des Getränkekonzerns Pepsico. Die Zahl der weiblichen CEOs an der Spitze deutscher DAX-Konzerne beträgt unterdessen: null.

Im Mai 2018 veröffentlichte die deutsch-schwedische Allbright Stiftung eine Untersuchung, für die sie die Vorstände und Aufsichtsräte der größten im jeweiligen nationalen Leitindex notierten Unternehmen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Schweden und den USA verglich. "Hier kann sich Deutschland nicht mit westlichen Industrieländern messen, sondern befindet sich auf einer Stufe mit Schwellenländern wie Indien oder der Türkei", schreiben die Autoren. Mit 12,1 Prozent Frauenanteil in den Vorständen landete die Bundesrepublik auf dem letzten Platz. In den USA ist der Anteil mit 24,8 Prozent doppelt so hoch. US-Vorstände haben einen Frauen­anteil von 30 Prozent. Deutschland kann von einer solchen Quote nur träumen.

Trotz Instrumenten wie Frauenquote und Elternzeit ist der Weg ins Topmanagement für Frauen in Deutschland noch immer steinig. In den USA, wo die Arbeitsbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wesentlich schlechter sind, stehen die Aufstiegs­chancen dagegen deutlich besser.

"Die USA haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorme Fortschritte dabei gemacht, Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen und ihnen den Aufstieg in Führungsrollen zu ermöglichen", sagt Colleen Ammerman, Direktorin der Gender Initiative der Harvard Business School.

Die Initiative verantwortet Forschung, Bildung und Aufklärung rund um weibliche Führungskräfte und Geschlechtergleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft. Aus Ammermans Sicht geht zwar der Wandel im amerikanischen Topmanagement seit Ende der 90er-Jahre nur langsam voran. Dennoch können die USA im Vergleich zur Bundesrepublik größere Erfolge vorweisen, obwohl es dort weder Frauenquote noch Elternzeit gibt. Die Skepsis gegenüber ­einer Quote ist unter amerikanischen Frauen groß: Sie bezweifeln, dass Chancenungleichheit von oben herab bekämpft werden kann.

Ein Blick auf den deutschen Status quo scheint ihnen recht zu geben. Seit 2016 gilt für Aufsichtsräte börsenno­tierter und paritätisch mitbestimmter Unternehmen eine Frauenquote von 30 Prozent. Frei werdende Aufsichtsratsposten müssen mit Frauen besetzt werden, bis die Quote erfüllt ist - sonst bleibt der Stuhl leer. Für Vorstände gilt diese Vorgabe nicht. Hinzu kommt, dass weibliche Aufsichtsräte nur selten in die Ausschüsse berufen werden, die neue Kandidaten für den Vorstand vorschlagen. Und so sitzen zwar mehr Frauen in den Aufsichtsräten deutscher Konzerne, die Vorstände bleiben jedoch weiterhin überwiegend männlich.

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Frauen im Vorstand? Bitte nicht.


Mehr noch: Viele deutsche Unternehmen wollen ausdrücklich keine Frauen im Vorstand. Per Gesetz sind sie zwar verpflichtet, eine Zielgröße für den Frauenanteil in ihren Vorständen zu veröffentlichen. Doch die darf auch bei null liegen. Laut einer aktuellen Untersuchung der Allbright Stiftung zeigen 76 von 160 börsennotierten Unternehmen keine Ambition, Frauen in ihre rein männlichen Vorstände zu heben. 53 Unternehmen sprechen sich sogar offen gegen weibliche Vorstandsmitglieder aus. "Wir sind mit der aktuellen Besetzung gut aufgestellt", begründet Brillenhändler Fielmann das Null-Prozent-Ziel in ­seinem Corporate-Governance-Bericht. Das Verbindungstechnik-Unternehmen Norma Group erklärt im Geschäftsbericht 2017: "Darüber hinaus hält es der Aufsichtsrat nicht für im Interesse der Gesellschaft, höhere Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand festzulegen. Daher ist hier die Zielgröße für den Frauenanteil im Vorstand weiterhin null."

Statt politisch verordnetem Wandel konzentrieren sich die USA auf Verhaltens- und Prozessanpassungen in der Wirtschaft. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass die Sprache in einer Stel­len­anzeige einen großen Einfluss darauf hat, wie sich der Pool der Bewerber zusammensetzt: Bestimmte maskulin oder feminin klingende Worte und Phrasen geben Menschen ein Gefühl dafür, wer in dem Job erfolgreich sein wird. Das kann dazu führen, dass sich weniger Frauen bewerben. Anzeigen von einer Software überprüfen zu lassen, die Sprachmuster identifiziert und verändert, ist laut Ammerman ein Weg, um das System gerechter und chancengleicher aufzustellen.

Überkommene Rollenbilder. Die größte Herausforderung besteht darin, subtilere Formen der Diskriminierung zu überwinden. Die Forschung spricht vom "Second Generation Gender Bias": zum Teil unbewusste Vorurteile, die das Denken und Handeln des Einzelnen beeinflussen. Etwa, dass Frauen als warmherzig und nett gelten. Treten sie bestimmt auf, sieht man sie schnell als herrisch und ehrgeizig. Bei Männern werden Machthunger und Konkurrenzdenken dagegen nicht als negative Eigenschaften angesehen. Vorurteile spielen aber auch eine Rolle: wenn ein Manager ein wichtiges Projekt nicht der Frau in seinem Team überträgt, weil sie kleine Kinder hat und er sie nicht mit Überstunden und Reisezeit belasten will. Er denkt, dass er der Kollegin damit einen Gefallen tut. "Tatsächlich beraubt er sie der Möglichkeit, sich selbst zu überlegen, ob diese Aufgabe die richtige für sie ist. Es ist ein gut gemeinter Schritt, der aber Einfluss darauf hat, wer die Karriereleiter nach oben steigt", sagt Ammerman.

Amerikanische Unternehmen sind deshalb aktiv geworden. Mary Barras Vorgesetzte erkannten ihr Potenzial; General Motors finanzierte 1988 ihren MBA an der Universität Stanford und beförderte sie im Anschluss. Sechs der 13 Vorstandsmitglieder bei GM sind weiblich, seit September 2018 gibt es einen weib­lichen Finanzvorstand. Branchenriese IBM legte 2015 das "Elevate for Tech"-Programm auf, mit dem Frauen auf Führungsrollen vorbereitet werden. Nach Unternehmensangaben ist mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen seitdem befördert worden. Zudem sponsert IBM Programme wie "Girls Who Code" (Mädchen, die programmieren), das Schülerin­nen für Tech-Berufe interessieren soll.

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Mentoren helfen


Viele Konzerne setzen auf Mentoring. Kontakt und Feedback von einem Vorbild sind wichtig, um eigene Führungsqualitäten zu erkennen und weiterzuentwickeln. "Es ist viel schwieriger, sich selbst in einer Führungsrolle zu sehen, wenn man keinen Zugang zu einem solchen Vorbild hat", sagt Ammerman. Ein Mentor kann Türen öffnen und beim Netzwerken helfen. Selbst Differenzen seien lehrreich, erklärte Mary Barra in einem Podcast: Mentees können analysieren, was sie etwa am Führungsstil ihres Mentors stört, und daraus Schlüsse für ihr eigenes Auftreten ziehen. Barra sagt, dass sie ohne Mentoring nie in ihre heutige Position gekommen wäre. Auch Ginni Rometty von IBM und die ehemalige Pepsico-Chefin Indra Nooyi sprechen positiv über ihre Mentoren.

Mittlerweile haben auch deutsche Firmen deren Nutzen erkannt. Ein Viertel der Unternehmen in Deutschland unterhält laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Mentoring-Programme (siehe Interview Seite 4).

Doch nachdem die MeToo-Bewegung eine öffentliche Debatte über sexuelle Belästigung entfacht hat, zögert gemäß einer Umfrage der Organisation LeanIn beinahe die Hälfte der männlichen Manager, engeren Kontakt mit einer Kollegin zu pflegen. 16 Prozent fühlen sich unwohl dabei, Mentor für eine Frau zu sein. Ausgerechnet eine Initiative für Frauenrechte könnte die Aufstiegschancen für Frauen erneut bremsen.

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Interview Christiane Flüter-Hoffmann, Personalexpertin: "Eine Quote ist nicht zielführend"


Christiane Flüter-Hoffmann forscht am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln zum Thema Personalpolitik

€uro: Welche Note würden Sie Deutschland im internationalen ­Vergleich geben in puncto Frauen im Topmanagement?


Christiane Flüter-Hoffmann: Nehmen wir Europa als Vergleichsmaßstab, zeigt uns die Arbeitskräfteerhebung, dass wir auf Platz 20 von 28 liegen, also gerade Mittelmaß. Vergleichen wir nur das Topmanagement, sehen wir, dass Deutschland etwa im Vergleich mit den USA noch großen Nachholbedarf hat. In den USA sind die Top-Positionen schon fast zu 40 Prozent in Frauenhand, in Deutschland erst zu einem Viertel. Also insgesamt die Note 3.

Sind Frauenquote und bezahlte Eltern­zeit am Ende nicht zielführend?


Die Frauenquote ist sicherlich nicht zielführend. Wir sehen das im öffentlichen Dienst, der trotz der Gleichstellungsgesetze schon seit Jahrzehnten nicht wesentlich bessere Zahlen vorweisen kann als die Privatwirtschaft. Aber das Elterngeld hat inzwischen sehr klar gezeigt, dass Frauen schnell wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, sofern sie eine Kinderbetreuung haben. Dort liegt eher der Skandal: Kommunen und Länder schaffen es nicht, den seit August 2013 bestehenden Rechtsanspruch der Eltern auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten ­Lebensjahr des Kindes umzusetzen. Immer noch müssen 30 Prozent der Frauen, die nach Auslaufen des Elterngelds wieder arbeiten möchten, mangels Kinderbetreuung zu Hause bleiben. ­Dabei benötigt sie die Wirtschaft ­dringend.

Was läuft in den USA besser?


In den USA ist das Mentoring nicht nur erfunden worden, sondern auch ­wesentlich weiter verbreitet als in Deutschland. Nach Aussage vieler Frauen, die es geschafft haben, ist es ein ­wesentlicher Erfolgsfaktor: Nehmen wir die Karriere von Ginni Rometty, Chefin von IBM. Sie ist Informatikerin und Elektrotechnik-Ingenieurin. Sie hat während ihrer Berufszeit mehrmals von Mentoren profitiert, aber besonders noch einmal kurz bevor sie den Vorstandsposten bei IBM übernahm. Auch Mary Barra, CEO von GM, sagt, dass sie ohne ihre Mentoren nie auf ­diese Position gekommen wäre.

In Deutschland sind Frauen häufig zuständig für Personal, Logistik oder Finanzen. Zeigt sich darin ein gewisses Rollenbild?


In der Tat hängt dies einerseits mit dem Rollenbild zusammen, aber auch mit den Voraussetzungen: Frauen studieren eher Betriebswirtschaftslehre als Ingenieurwissenschaften oder Informatik, daher sind sie oft Personalvorstand oder Finanzvorstand.

Was müsste sich hierzulande ändern?


Hilfreich wäre, wenn mehr Frauen als bisher klassische MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik; Anm. d. Red.) studieren würden. In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Mentoring förderlich für die Karriere ist. Erst ein Viertel der Betriebe in Deutschland nutzt es. Er wäre schön, wenn es verbreiteter wäre. Auch die Rollen­klischees müssen sich verändern: Dass Frauen immer noch den überwiegenden Teil von Haushalt, ­Kinderbetreuung und Pflege von Anehörigen übernehmen müssen, lässt ihnen kaum Zeit, Karriere zu machen. Kein Wunder, dass Frauen in Top-Führungspositionen im Vergleich zu Männern häufiger kinderlos und ­ohne Partner sind.