Als Investor kann man den schweren Weg gehen: Bilanzen von Unternehmen durchwühlen, Märkte analysieren, Kennziffern vergleichen, Prognosen erstellen und auf diesem Weg Dinge aufspüren, die der Masse der Investoren entgangen sind. Es geht aber auch viel einfacher.

Der Mathematiker Edward Thorp entdeckte in den Kursbewegungen der Finanzmärkte einen erstaunlichen Rhythmus: Viele Aktien, die in den vorangegangenen zwei Wochen besonders stark gestiegen waren, schwächelten plötzlich. Gleichzeitig erholten sich entsprechende Verlierer. Offenbar korrigierten die Märkte eine kurzfristige Übertreibung. Thorp, der als Hedgefondsmanager ein Vermögen machte, gehört zu den Pionieren des quantitativen Investments. Während die Erben von Altmeister Benjamin Graham durch akribische Bilanzanalyse nach unterbewerteten Aktien suchen, durchwühlen die sogenannten Quants riesige und immer weiter wachsende Datenberge nach Mustern. Die Idee: Was in der Vergangenheit funktioniert hat, müsste auch in der Zukunft klappen.

Zu den faszinierendsten und hartnäckigsten Anomalien der Finanzmärkte gehört das Momentum. Dieser aus der Physik übernommene Begriff beschreibt die Dynamik eines Aktienkurses. Daraus lassen sich etliche Strategien ableiten. Die für Privatanleger spannendste, weil einfach anzuwendende Variante ist die Gewinnerstrategie. Ein Anleger investiert dabei in jene Aktien, die über die vorangegangenen sechs oder zwölf Monate besonders stark gestiegen sind, und setzt darauf, dass sich der Aufwärtstrend fortsetzt. Bilanz- und Bewertungskennziffern spielen dabei keine Rolle.

Einfache Strategie, hohe Rendite


Wie eine solche Strategie funktionieren kann, hat €uro am Sonntag in einer Simulation durchgerechnet: Aus dem deutschen HDAX werden zum jeweiligen Jahreswechsel die fünf Topwerte der vorangegangenen zwölf Monate ausgewählt und für weitere zwölf Monate gehalten. Erst dann wird das Depot umgeschichtet.

In den vergangenen 15 Jahren hätte ein Anleger mit dieser Strategie immerhin elfmal den Vergleichsindex geschlagen. Im Schnitt hätte dieses Depot knapp 24 Prozent an Wert gewonnen. Der HDAX schaffte im selben Zeitraum durchschnittlich elf Prozent. Auch ein renditestarker Nebenwerteindex wie der MDAX blieb mit einem Plus von knapp 15 Prozent deutlich zurück. Der Renditevorsprung der Gewinnerstrategie ist also groß genug, um die höheren Transaktionskosten zu rechtfertigen. Kann Börse wirklich so einfach sein?

In einer transparenten Welt, in der jeder Anleger Zugang zu allen relevanten Informationen hat, müsste der Aktienmarkt recht zuverlässig den Wert einer Aktie abbilden. Ein Anleger, egal wie clever er ist, kann darum nach der Theo­rie der effizienten Märkte den Gesamtmarkt auf Dauer nicht schlagen. Und wenn es doch eine zuverlässige Methode gäbe, müsste diese schnell so viele Anleger anziehen, dass sie in Zukunft nicht mehr funktioniert. Das Momentum aber hält sich hartnäckig. Studien haben es sogar zurück bis ins frühe 19. Jahrhundert nachgewiesen.

Zu erklären ist das Phänomen am ehesten durch die Psychologie: Der Mensch braucht oft etwas länger, um neue Informationen zu verarbeiten. Und wenn diese der vorgefassten Meinung widersprechen, werden sie von manchen hartnäckig ignoriert. Dadurch fließt der faire Wert einer Aktie erst mit Verzögerung in den Kurs ein und erzeugt in extremen Fällen eine über viele Monate laufende Dynamik. Die einst unterbewertete Aktie erregt mit steigenden Kursen immer mehr Aufmerksamkeit. Irgendwann ist das Papier deutlich überteuert, die Begeisterung der Investoren kühlt ab, das Momentum der Aktie verflüchtigt sich.

Ein extremes Beispiel für einen Momentumwert ist Varta. Das Unternehmen produziert Mikrobatterien, die beispielsweise in kabellosen Kopfhörern verwendet werden. Die Aktie ist mit einem Wertzuwachs um 388 Prozent der klare Top-Performer des HDAX im vergangenen Jahr. Der Kurs ist ziemlich kontinuierlich gestiegen. Selbst wer das Papier erst im Schlussquartal gekauft hatte, erzielte noch ein Plus von 34 Prozent. Die oft hohen Renditen von Momentumstrategien haben allerdings einen Preis: Risiko!

Momentumaktien sind bereits deutlich gestiegen und darum nach klassischen Bewertungskennziffern fast immer teuer. Bricht der Aktienmarkt auf breiter Front ein, erwischt es Momentumwerte meist besonders hart. Das bestätigt sich in unserer Simulation: Als die Weltbörsen 2008 im Schatten der großen Finanzkrise in die Knie gingen, verloren die Top-5-Momentumwerte des HDAX 55 Prozent an Wert. Auch in der folgenden Markterholung schnitt die Strategie zunächst deutlich schlechter ab als der Vergleichsindex, weil in dieser Phase Aktien gefragt waren, die zuvor stark an Wert verloren hatten.

Das Risiko begrenzen


Mit einigen Kniffen lässt sich die Wucht der Ausschläge einer Momentumstrategie eingrenzen: Stoppkurse bieten einen klar definierten Notausstieg. Verkauft wird beispielsweise dann, wenn der Kurs um 20 Prozent unter das Einstiegsniveau fällt oder unter seine 100-Tage-Linie rutscht. Auch den Gesamtmarkt sollte ein Anleger im Blick behalten: Sackt ein Index deutlich unter seine 200-Tage-Linie, ist das ein Zeichen für stärkere Turbulenzen. In solchen Phasen sollte ein Anleger größeren Risiken aus dem Weg gehen.

Nicht geholfen hätten solche Vorsichtsmaßnahmen bei Varta. Die Aktie stürzte in dieser Woche nach einer kritischen Analystenstudie schlagartig um mehr als 20 Prozent ab. Solche Ereignisse sind schmerzhaft, aber vermutlich der Grund, warum Momentumstrategien auch künftig funktionieren dürften: ­Momentumcrashs verhindern, dass zu viele Anleger die Strategie umsetzen.

Gleichzeitig bringen heftige Rückschläge das Momentum in Einklang mit der Theorie der effizienten Märkte. Die auf lange Sicht überdurchschnittliche Rendite wäre demnach eine Art Risikoprämie: Anleger werden belohnt, wenn sie die extremen Kursschwankungen der Strategie aushalten. Geschenke gibt es an der Börse nicht.

Investor-Info

HDAX-Rangliste
Deutschlands Top 5


Eine Momentumstrategie kann man zu jedem Zeitpunkt starten. Nach der ersten ­Woche des neuen Jahres ist weiterhin Varta der klare Top-Performer über die vorangegangenen zwölf Monate. Zu den aktuellen Top 5 zählen des Weiteren der Chipentwickler Dialog, der Essenslieferdienst Delivery Hero, die IT-Firma Bechtle und der Spezialist für Bausoftware Nemetschek.

Name ISIN Wertentw. 1)
Varta DE000A0TGJ55 +244,7
Dialog GB0059822006 +119,5
Delivery Hero DE000A2E4K43 +97,9
Nemetscheck DE0006452907 +86,2
Bechtle DE0005158703 +85,3

1) Wertentwicklung zwölf Monate in Prozent
Stand: Donnerstag, 18 Uhr; Quelle: Bloomberg

MSCI World Momentum
Welt-Gewinner


Eine Momentumstrategie mit moderatem ­Risiko lässt sich über Indexfonds abbilden. Der MSCI World Momentum setzt auf rund 350 Aktien, deren Kurse sich über die vergangenen sechs und zwölf Monate besonders gut entwickelt haben. Die größten Positionen sind Microsoft und Procter & Gamble, knapp zwei Drittel des Volumens stecken in US-Aktien. Investieren können Anleger in den Index zum Beispiel über einen ETF von iShares.

Invesco Europa Core
Rendite mit System


Nach einem klar definierten Modell wählt der auf Europa ausgerichtete Fonds Titel aus. Berücksichtigt werden etwa das Kursmomentum, zusätzlich auch Änderungen der Gewinnschätzungen oder der Bilanzqualität. Durch diesen Mix konnte der Fonds den europäischen Markt schlagen. Zu den größten Positionen zählen Novartis und Munich Re.