Noch sind Elektroautos von Tesla auf deutschen Straßen eher selten zu sehen. Die Zulassungszahlen für das Model S und das Model X beliefen sich von Januar bis Juli auf 1365 beziehungsweise 710 Fahrzeuge. Zum Vergleich: Der VW Golf kam allein im Juli auf über 16 000 Zulassungen. Doch an der Börse fährt der US-Elektroautobauer trotzdem auf der Überholspur. Wie flott der von Elon Musk gegründete Konzern unterwegs ist, zeigt ein von Juli 2010 bis Juni 2017 eingefahrenes Kursplus von 2327 Prozent.

Noch eindrucksvoller ist die Entwicklung der Marktkapitalisierung: Diese liegt aktuell bei rund 47 Milliarden Euro. Ford Motor und General Motors kommen auf Börsenwerte von lediglich 36 und 43 Milliarden Euro. Das bedeutet, die Börse stuft den Unternehmenswert des Aufsteigers schon jetzt höher ein als jenen der alteingesessenen US-Platzhirsche.



Ob die Vorschusslorbeeren gerechtfertigt sind, wird die Zukunft zeigen. Allerdings sieht man jetzt schon, wie stark die Kurskraft von Unternehmen mit disruptivem Potenzial sein kann. Zumal als Beleg dafür auch andere Beispiele wie Apple, Amazon, Alphabet, Facebook oder Netflix taugen. All diese Unternehmen haben mit ihren Produkten, Innovationen und Technologien den Bereich, in dem sie tätig sind, kräftig aufgemischt und zählen zu den größten Konzernen weltweit.

Reichmacher-Aktien



Auf dem Weg nach oben haben all diese Titel nicht nur ihre Gründer, sondern auch viele Langfristaktionäre reich gemacht. Wer das beobachtet hat (oder besser noch: sogar investiert war), lechzt nach mehr. Das Gute dabei: Es gab noch nie in der Geschichte der Menschheit gleichzeitig so viele disruptive Bereiche, wie es aktuell der Fall ist. Allein bei der Aufzählung der Themen wie Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Virtual Reality, Elektrofahrzeuge, selbstfahrende Autos, soziale Netzwerke, erneuerbare Energien, E-Commerce, Fintech, Drohnen, Biosimilars, Gentechnik, Cloud-Computing, Internet der Dinge, Big Data, LED und Kryptowährungen kommt man auf eine ansehnliche Zahl. Auswahl gibt es somit mehr als genug.

Doch damit sind wir auch schon beim schwierigen Teil: bei der Suche. Natürlich ist es nicht einfach, ein Unternehmen mit disruptivem Potenzial treffsicher zu identifizieren. Wenn man glaubt, eines gefunden zu haben, steht man oftmals vor einem Bewertungsproblem. Denn Aktien solcher Unternehmen kommen nicht selten mit einer - zumindest optisch - hohen Bewertung daher. Das hält viele Anleger ab, auf den bereits fahrenden Zug aufzuspringen. Doch dazu hat Christian Jasperneite einen einfachen Tipp. Im Interview auf Seite 5 rät der Anlagechef von M. M. Warburg, die Bewertungsfrage bei diesen Aktien weitgehend auszublenden. Und auch für das erstgenannte Problem hat er eine Lösung.

Doch was ist unter Disruption eigentlich zu verstehen? Was fördert ihre Entwicklung? Welche generelle Bedeutung hat das Thema für uns alle?

Auf Seite 2: Komplexe Zusammenhänge





Komplexe Zusammenhänge



Stichwörter wie Buchdruck, Dampfmaschine, Eisenbahn oder Automobile beweisen es - Disruption ist nichts Neues. Denn immer, wenn die Menschheit eine neue, bessere Erfindung machte, war das der Todesstoß für die alte Technik. Der heutzutage dafür gebräuchliche Begriff stammt aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch (engl. disrupt - zerstören, auseinanderbrechen, auf den Kopf stellen). Doch noch einprägsamer verdeutlicht die damit verbundenen Folgen der vom österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägte Begriff der "schöpferischen Zerstörung".

Sehr anschaulich fasst diese Zusammenhänge auch die Unternehmensberatung E & Y zusammen. In einem Erklärungsansatz mit sechs Punkten weist die Unternehmensberatung erstens darauf hin, dass sich das Verständnis von Disruption im Wandel befindet. Es gehe nicht mehr nur um einschneidende technologische und geschäftliche Innovationen, sondern die Anstöße für diese Veränderungen resultierten immer häufiger aus demografischen Verschiebungen, der Globalisierung oder auch aus volkswirtschaftlichen Trends. Die Auswirkungen reichen dabei längst über die Geschäftswelt hinaus, wie Uber oder Airbnb als Vertreter der Shared Economy mit ihren zerstörerischen Effekten auf das bisherige regulatorische Umfeld zeigen.

Zweitens sind die Disruptionsursachen wie Technologie, Demografie und Globalisierung zwar nicht neu, doch die Effekte daraus entwickeln sich wellenförmig. Entsteht eine Welle, zieht das neue Megatrends nach sich. Und drittens ist ein Verständnis disruptiver Entwicklungen für Unternehmen überlebensnotwendig. Denn von den sich beschleunigenden und immer mehr Branchen erfassenden disruptiven Veränderungen ist letztlich jede Gesellschaft betroffen. Die Folgen daraus für das eigene Geschäftsmodell werden oft unterschätzt.

Zu erklären ist das mit dem Phänomen, dass im Nachhinein zwar alle Revolutionen unvermeidlich, im Voraus betrachtet aber unmöglich erscheinen. Gefährdet sind nicht nur die Nichtstuer unter den Firmen, sondern auch jene, die lange das Richtige getan haben. Deshalb werden auch immer wieder Konzerne zu Disruptionsopfern, die zuvor jahrzehntelang ihre Branche dominiert haben.

Auf solche Veränderungen richtig zu reagieren, ist für Unternehmen auch deshalb schwierig, weil sie bei ihrem Auftauchen meist noch unbedrohlich wirken. Doch nach Anlaufschwierigkeiten wird irgendwann eine kritische Masse erreicht, und dann verläuft der weitere Aufstieg oft schneller, als viele das wahrhaben wollten. Wie viel Dynamik sich diesbezüglich entwickelt hat, zeigt folgendes Beispiel: Während das Radio rund 38 Jahre brauchte, um eine Nutzerzahl von 50 Millionen zu erreichen, benötigte das Videospiel Angry Birds dafür lediglich 35 Tage (siehe Grafik Seite 6).

Die Adaptionszeiten sinken also drastisch - und das verspricht den Profiteuren enormes Wachstum. Aus Unternehmenssicht ist es deshalb wichtig, das Ausmaß einer Disruption möglichst treffend zu erfassen. Wie schwer das ist, lässt sich erneut am Automobilsektor verdeutlichen. In diesem Segment klammern sich deutsche Autobauer noch an alte Technologien, deutsche Autofahrer haben Vorbehalte gegenüber Elektro- und selbstfahrenden Fahrzeugen sowie gegenüber neuen Mobilitätsangeboten. Dabei ist ein teures Investment wie ein eigenes Auto bei einer im Schnitt nur vierprozentigen Einsatzzeit zumeist totes Kapital.

Zudem kommen bei Verkehrsunfällen weltweit mit rund 3500 Toten pro Tag unnötig viele Menschen ums Leben. In den USA sind Autos für rund 45 Prozent des gesamten Ölverbrauchs verantwortlich. Mehr Rationalität bei der Autonutzung wäre so gesehen sicherlich ein Vorteil. Vor diesem Hintergrund könnte ARK Investment Management durchaus recht behalten. Die Disruptionsexperten taxieren den Marktwert von Mobilitätsanbietern schon in fünf Jahren auf das Dreifache der Autoindustrie. Angesichts solch drastischer Machtverschiebungen rät E & Y Firmen dazu, die disruptiven Wellen und die dazugehörigen Megatrends in ihren Wechselwirkungen tiefgehend zu erforschen. Denn nur das helfe dabei, eine sich wandelnde Welt zu verstehen und sich entsprechend anzupassen.

Auf Seite 3: Disruptionsportfolio schlägt den Markt





Disruptionsportfolio schlägt den Markt



Wenn bereits betroffene Unternehmen Schwierigkeiten haben, sich in diesem Dickicht zurechtzufinden, stehen Anleger erst recht vor einer schwierigen Aufgabe. Besonders disruptive Segmente zu benennen, ist noch relativ einfach, deutlich komplizierter ist es allerdings, Aktien zu finden, die nachhaltig als Gewinner aus diesem Wandel hervorgehen. Schließlich kommen auf einen Sieger in der Regel viele Verlierer, die bei der schöpferischen Zerstörung auf der Strecke bleiben. Statt also vor dem komplizierten Hintergrund nach Gesellschaften mit Produkten oder Dienstleistungen, die einen disruptiven Charakter aufweisen, zu suchen, haben Anleger die Möglichkeit, solche Aktien anhand von Strukturbrüchen im Verlauf von Finanzkennzahlen zu finden. Das Prinzip besteht somit darin, Unternehmen zu identifizieren, bei denen sich Kennziffern wie Gewinn, Umsatz, Cashflow, Dividende, Buchwert und Verschuldung relativ zum eigenen Trend massiv verbessern.

Das ist ein Ansatz, dem M. M. Warburg in einem Forschungsprojekt nachgegangen ist. Das im Zuge einer Rückrechnung ermittelte Resultat weist für die Portfolioperformance eines europäischen Disruptionsdepots einen deutlichen Vorsprung bei der Wertentwicklung gegenüber dem Index Stoxx Europe 600 aus (siehe Chart Seite 6). Das lässt darauf schließen, dass der Ansatz funktioniert. Interessanterweise macht sich dieses Vorgehen selbst einen disruptiven Trend zunutze. Denn es greift als daten- und computergestützter Ansatz zur Disruptionsidentifizierung auf die Digitalisierung zurück.

Acht Einzelfavoriten



Dieses systematische Vorgehen spuckt als Ergebnis oft Firmennamen aus, bei denen sich nicht sofort erschließt, warum das Unternehmen disruptiv sein soll. Am Beispiel von Adidas erklärt Christian Jasperneite im Interview, wie eine solche Einstufung trotzdem sinnvoll sein kann. In der europäischen Auswahlliste tauchen zum Beispiel auch Unternehmen wie ING-DiBa und Qiagen auf. Das niederländische Finanzinstitut hat beispielsweise die Kreditkrise zum Überdenken der eigenen Strategie genutzt. Ein aus den Überlegungen der Verantwortlichen gezogener Schluss war unter anderen, eine Plattform aufzubauen, welche die Schaffung einer globalen Digitalbank erlaubt, und 800 Millionen Euro in diese Transformation zu stecken. Ein Innovationsfonds, 90 Fintech-Partnerschaften und die Bereitschaft, Datenanalysen für ein besseres Kundenverständnis einzusetzen, zeugen davon, dass ING auf dem richtigen Weg ist.

Ebenfalls auf Kurs scheint der Gendiagnostik- und Biotechkonzern Qiagen zu sein. Wie auch DJE-Fondsmanager Jens Ehrhardt lobend hervorhebt, ist Qiagen eines der ersten Unternehmen, das den gesamten Arbeitsablauf für Next-Generation-Sequencing und damit eine schnelle und kosteneffiziente Analyse von krankheitsrelevanten Genen anbieten kann. Die gute Positionierung verspricht Marktanteilsgewinne. Da der Kurs deutlich zurückgekommen ist, sehen wir wieder Einstiegskurse. Die Qiagen-Technologie senkt den Preis einer Genomentschlüsselung von aktuell 1000 Dollar auf rund 100 Dollar, und das wird in dem mit Kostensteigerungen kämpfenden Gesundheitssystem sicher eine willkommene Entlastung sein.

In den USA deuten bei Micron Technology und bei Agilent Technologies relative Verbesserungen beim geschätzten Gewinn beziehungsweise bei den Ausgaben für Investitionsgüter auf positive disruptive Impulse hin, deshalb stufen wir den Wert von Beobachten auf Kaufen. Beim Halbleiterhersteller Micron besteht die Hoffnung, dass das Unternehmen davon profitieren kann, dass immer mehr Dram- und Nandflash-Chips in Geräten verbaut werden. Vorstandschef Sanjay Mehrotra stellte jedenfalls bis zum kommenden Jahr eine Verdopplung der Dram-Kapazitäten selbst in niedrig- und mittelklassigen Smartphones in Aussicht. Das Ergebnis könnte sich vor diesem Hintergrund in den nächsten Jahren deutlich verbessern.

Letzteres ist auch Agilent zuzutrauen, einem Anbieter von Laborprodukten und -dienstleistungen, der unter anderem bei der Aufrechterhaltung der Nahrungsmittelsicherheit hilft. Mit einem Gewinnsprung von 19 Prozent hat das Unternehmen die Erwartungen im abgelaufenen Quartal klar übertroffen. Die Börse belohnt das mit neuen Mehrjahreshochs sowie einem intakten Aufwärtstrend. Mit der Aussicht auf ein Ergebnisplus von fast elf Prozent pro Jahr in den kommenden fünf Jahren sollte das Unternehmen auch in Zukunft ein attraktiver Wert bleiben.

Nicht in der Auswahlliste von M. M. Warburg zu finden ist Materialise. Der Spezialist für 3-D-Druck-Software und Dienstleister für additive Fertigung hat aus unserer Sicht dennoch gute Zukunftsaussichten. Das belgische Unternehmen, das unter anderem patientenindividuelle Hüftimplantate im 3-D-Druckverfahren herstellt, ist auf Wachstumskurs. Dieser dürfte helfen, aus einem Verlust bis 2021 einen Gewinn je Aktie von 52 Cent zu machen. Gelingt das, sollte die an der Nasdaq gelistete Aktie Luft nach oben haben.

Auf Seite 4: Ein Blick in die Welt





Ein Blick in die Welt



Für Regionen außerhalb Europas und der USA hat M. M. Warburg bislang noch keine Rückberechnungen angestellt. Aber natürlich finden sich auch im Rest der Welt gute Anlagechancen. Einer der Kandidaten ist in China ansässig und heißt Baidu. Der Anbieter einer Suchmaschine für Websites kommt in China auf einen Marktanteil von 78 Prozent und gilt als China-Version von Google. Aber die Firma ist auch in anderen Bereichen aktiv. So arbeitet es zusammen mit Microsoft an einer Plattform für autonomes Fahren. Und nicht zuletzt auch dank einer Kooperation mit Netflix birgt der hauseigene Streamingdienst Iqiyi.com Potenzial. Ein ebenfalls sehr spannender Wert ist Tencent - eine der größten chinesischen Internetfirmen. Ein indirekter Weg, um in den Marktführer des stetig wachsenden Social-Networking-Geschäfts in China zu investieren, ist über den afrikanischen Medienkonzern Naspers. Das macht deshalb Sinn, weil das - gemessen am Börsenwert - größte afrikanische Unternehmen einen 34-prozentigen Anteil an Tencent hält, dessen Wert die eigene Marktkapitalisierung um mehr als ein Drittel übersteigt. Bedeutet, die zahlreichen anderen Beteiligungen des südafrikanischen E-Commerce-Investors, etwa am Berliner Essenslieferdienst Delivery Hero, an der russischen Internet-holding Mail.ru Group oder am indischen Internethändler Flipkart, bekommen Naspers-Aktionäre ebenso umsonst wie die Beteiligung an Tencent. Eine günstige Eintrittskarte in die disruptive Anlagewelt.



Auf Seite 5: Interview mit Christian Jasperneite - "Viel mehr als Amazon oder Tesla"





"Viel mehr als Amazon oder Tesla"



Christian Jasperneite: Der Anlagechef von M. M. Warburg über ein Forschungsprojekt, Demut und die Systematik bei der Suche nach disruptiven Unternehmen

Ein Forschungsprojekt von Prof. Dr. Hanjo Allinger von der TH Deggendorf mit der M.M. Warburg ergab, dass bestimmte Daten Rückschlüsse auf disruptive Entwicklungen bei Firmen zulassen. Ein auf Basis eines Disruptions-Scores erstelltes europäisches Portfolio zeigt bei einer Performance-Rückrechnung bis Dezember 2002 eine deutlich bessere Wertentwicklung als der Index Stoxx Europe 600 (siehe Seite 6). Doch wie funktioniert dieser Ansatz? Wir sprachen mit Christian Jasperneite von M.M. Warburg.

BÖRSE ONLINE: Disruptive Aktien sind sehr gefragt. Registrieren Sie auch ein verstärktes Kundeninteresse an diesem Thema?


Christian Jasperneite: Keine Frage, in den vergangenen Monaten gab es Anfragen und einige wenige Kunden fordern eine stärkere Beachtung dieses Themas sogar geradezu ein.

Aktien mit disruptiver Kurssprengkraft zu entdecken, ist schwer. Gibt es eine Strategie, wie sich die Suche systematisieren lässt?


Wir halten wenig davon, mit einem "klassischen" Instrumentarium vorzugehen. Als Analyst oder Portfoliomanager ist man geschult, Unternehmen mit hoher Bilanzqualität, günstiger Bewertung und stabilem Geschäftsmodell zu selektieren. Beim Thema Disruption geht es aber um etwas anderes. Letztlich haben wir es immer dann mit einer disruptiven Entwicklung zu tun, wenn Produkt- oder Prozessinnovationen vorliegen, die Unternehmen signifikant verändern. Es ist aber schon schwer, das Potenzial von Produkt- oder Prozessinnovationen einzuschätzen. Richtig schwer wird es, die Firmen zu identifizieren, die davon profitieren werden. Oftmals verstehen selbst die betroffenen Unternehmen am Anfang nicht genau, dass sie sich in einem solchen Prozess befinden. Aus diesem Grund haben wir darauf verzichtet, einen klassischen Selektionsansatz zu wählen. Stattdessen untersuchen wir Unternehmenskennzahlen direkt auf Disruption.

Wie gehen Sie da vor?


Unsere These ist einfach: Wenn sich ein Unternehmen in einer disruptiven Phase befindet, muss sich dies auch in heftigen Strukturverschiebungen von Bilanzkennzahlen zeigen, die für solche Unternehmen typisch sind. Genau danach suchen wir. Damit antizipieren und spekulieren wir nicht, sondern reagieren erst dann, wenn sich die ersten "Beweise" der Frühphase einer disruptiven Entwicklung zeigen. Das machen wir extrem systematisch. Eine qualitative Einschätzung findet erst ganz am Ende des Prozesses statt: Wir "entfernen" Unternehmen von unserer Kaufliste, die ganz offensichtlich nicht von disruptiven Prozessen profitieren, sondern beispielsweise nur aufgrund eines Unternehmensverkaufs einen Strukturbruch in den Kennzahlen aufweisen.

Nicht bei allen Unternehmen in Ihrer Auswahl erschließt sich sofort der disruptive Charakter. Können Sie anhand von Adidas erläutern, wie Ihr Vorgehen funktioniert?


Ihre Reaktion ist typisch. Natürlich könnte ich jetzt schöne und werbewirksame Geschichten erzählen, dass Adidas die Sohlen von hochwertigen Sportschuhen mit einem sehr innovativen und weltweit wirklich einmaligem 3-D-Drucker-Prinzip herstellt. Und zwar mit einer Geschwindigkeit, die für 3-D-Drucker bisher unvorstellbar war. Die Wirklichkeit ist aber die, dass Adidas einfach einen sehr hohen Disruptions-Score in der Kennzahlenanalyse aufweist. Das führt auch dazu, dass wir keine Branchen ausschließen oder bevorzugen. Disruptive Entwicklungen können Branchen betreffen, die man gar nicht auf dem Radar hatte. Beispielsweise ist nicht ausgeschlossen, dass die zunehmende Verfügbarkeit von künstlicher Intelligenz mittelfristig Beratungsdienstleistungen im Finanzsektor umkrempeln wird. Disruption ist viel mehr als nur Amazon oder Tesla.

Unternehmen wie Amazon oder Tesla sind optisch hoch bewertet. Gibt es einen Ansatz, um den fairen Wert zu ermitteln?


Bei Aktien von disruptiven Firmen ist es fast per Definition unmöglich, eine faire Bewertung zu finden - das macht schon konzeptionell gar keinen Sinn. Deswegen schauen wir auch nicht auf die Bewertung.

Hat Ihr Forschungsprojekt Hinweise darauf ergeben, unter welchen Rahmendaten disruptive Unternehmensaktien an der Börse gut beziehungsweise weniger gut laufen?


Das ist eine sehr gute Frage. Wir haben uns in der Tat auch mit diesem Sachverhalt beschäftigt. Wir ordnen allen Unternehmen auf Basis unserer dynamischen Kennzahlenanalyse einen Disruptions-Score zu. Wenn auffallend viele Firmen gleichzeitig eine Verschlechterung im Score aufweisen, ist große Vorsicht geboten. Da spräche dann viel dafür, auf diese Art der Selektion zu verzichten oder sogar grundsätzlich die Aktienquote zu reduzieren. Aktuell gibt es dafür aber keine Anzeichen. In der Vergangenheit sind solche Phasen stark fallender Disruptions-Scores oftmals mit Rezessionen einhergegangen.

Gibt es Bereiche, die momentan sehr gehypt oder zu Unrecht vernachlässigt werden?


Wir sind hier mit viel Demut ausgestattet. Wir halten uns an Fakten, aber wir haben nicht den Anspruch, einen Hype als solchen zu identifizieren oder vermeintlich chancenreiche Sektoren als Erste zu entdecken. Wenn Unternehmen innerhalb weniger Monate signifikante Verbesserungen in Bilanzkennzahlen aufweisen, dann werden sie gekauft, und wenn dieser Trend ausläuft, dann werden sie verkauft. Das ist vielleicht weniger spannend, aber es funktioniert.

Haben Sie Pläne, Ihre Forschungsergebnisse in einem Anlageprodukt umzusetzen?


Ja, wenn wir unsere Forschungsphase abgeschlossen haben. Im Moment gibt es noch viel zu entdecken. Das mag überraschen, da die Analyse von Bilanzkennzahlen ein alter Hut ist. Das gilt aber vor allem für die Analyse der Niveaus von Kennzahlen. Aber kaum einer hat sich bisher darauf konzentriert, die Dynamik dieser Kennzahlen und damit die Veränderungen im Zeitverlauf genau unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht liegt das auch daran, dass hier wegen der Zeitreihenanalysen ein gewaltiges Datenvolumen durchforstet werden muss. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir im nächsten Jahr mit einem Fonds an den Start gehen werden. Qualität geht aber auch hier vor Schnelligkeit!

Auf Seite 6: Veränderung auf einen Blick